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Ende Oktober machte überraschende eine neue Friedensbewegung in Kolumbien von sich reden.
Mehrere Millionen Menschen demonstrierten unter der Parole "No Mas" (Nie wieder) in allen Großstädten des Landes
und erregten damit internationales Aufsehen. CNN widmete der Bewegung gar einen Themenschwerpunkt. Doch anders als in Chile oder
Argentinien ist das kolumbianische NO MAS nicht als Opposition zur Regierung und der Armee aufgetreten. Was aus der Bewegung weiter
wird, ist völlig offen.
Schon wenige Tage nach den Antikriegsdemonstrationen zeigte sich in den
ländlichen Regionen Kolumbiens, wie kompliziert sich ein Ende des bewaffneten Konflikts unter der Regierung Pastrana gestalten wird.
In Südwestkolumbien protestierten zehntausende von Bauern und Indígenas mit Straßensperren und Rathausbesetzungen
gegen die permanente Nichteinhaltung von Verträgen durch den Staat. Kein einziges der in den letzten 15 Jahren mit den sozialen
Bewegungen geschlossenen Abkommen sei eingehalten worden, erklärten die protestierenden Bauern. Angekündigte
Sozialprogramme seien auf dem Papier geblieben, Entwicklungsprojekte zugunsten der armen Bevölkerungsmehrheit würden eine
seltene Ausnahme darstellen.
Als Folge der Proteste ging in den Provinzhauptstädten
Popayán und Pasto gar nichts mehr. Nach zehn Tagen Blockade war Popayán das Benzin alle, die Lebensmittel wurden knapp.
Verschärft wurde der Konflikt zudem durch Streitereien zwischen dem Innenminister Nestor Humberto Martínez und dem
Gouverneur des Departements Cauca, Cesar Negret.
Innenminister Martínez, der wieder einmal Polizei und Armee
gegen die Proteste mobilisierte, warf Negret vor, auf die Proteste nicht angemessen reagiert zu haben. Außerdem weigerte sich der
Innenminister, wie von den Bauern gefordert, an direkten Gesprächen mit der Protestbewegung teilzunehmen, die u.a. auch vom Erzbistum
Popayán und diversen Gremien unterstützt wurde.
Noch sehr viel schärfer verliefen die Auseinandersetzungen im 300
Kilometer nördlich von Bogotá gelegenen Departement Bolívar, wo Paramilitärs und Armee seit nun inzwischen 20
Monaten eine Großoffensive gegen Bauernbewegungen und Guerilla durchführen. Das Ziel dieser Operationen ist es, die
Gebirgsregion Serranía San Lucas, in der 80% der kolumbianischen Goldvorkommen vermutet werden, wieder unter Kontrolle zu
bekommen. Die Asociación Campesina del Valle de Río Cimitarra sowie zahlreiche
Nichtregierungsorganisationen sprachen von 3000 vertriebenen Bauern.
Besonders schwerwiegend sind die Vorfälle vor dem Hintergrund,
dass die Pastrana-Regierung nach großen Bauerndemonstrationen erst im Oktober 1998 ein Abkommen mit den Bauern der Region
geschlossen hatte. Damals verpflichtete sich die Regierung, den Bauern Schutz vor den Paramilitärs zu gewähren und soziale
Hilfsmaßnahmen zu leisten. Auch dieser Vertrag wurde allerdings nie in die Tat umgesetzt.
Unklare Botschaft
Die Bedeutung der NO-MAS-Demonstrationen ist deshalb vorsichtig zu
bewerten. Zwar gelang es der Bewegung, an die zehn Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen, doch die Botschaft des Protesttags
blieb undeutlich. Während sich NO MAS anderswo in Lateinamerika als antimilitaristische Opposition gegen die Straflosigkeit versteht,
ist die Bewegung in Kolumbien ein merkwürdiges Hybrid aus Basisprotesten und einer Inszenierung der großen oligarchisch
kontrollierten Medien.
Die Entstehung der Bewegung ist tatsächlich bizarr. Sie wurde u.a.
mit initiiert von der Antientführungsorganisation País Libre, in der die Santos-Familie das Sagen hat. Dieser Clan gehört zu
den traditionellen Machteliten Kolumbiens, spielt eine zentrale Rolle in der Liberalen Partei und ist Eigentümer eines der
größten Wirtschaftskonsortien des Landes sowie der rechten Tageszeitung El Tiempo. Aber auch andere staatstreue Medien feierten
das NO MAS und hoben in der Berichterstattung v.a. hervor, dass die Bewegung ein Ende der Entführungen und Schutzgelderpressungen
forderte.
Diesem Thema kommt eine zentrale Bedeutung im kolumbianischen
Konflikt bei. Für die Guerillaorganisationen FARC und ELN, die in dem Zusammenhang von "Revolutionssteuern" sprechen,
sind die sog. retenciones ("Festhaltungen") die wichtigste Einnahmequelle. Würden sie auf sie verzichten, wären die
beiden Organisationen innerhalb kürzester Zeit am Ende. Andererseits sind die oft langwierigen, aber meist unblutigen
Entführungen für die Angehörigen der Oberschicht die spürbarste Seite des Bürgerkriegs.
Dass bei den NO-MAS-Protesten so viel von Entführungen, aber
vergleichsweise wenig von Massenvertreibungen, Massakern und Bombardierungen gesprochen wurde, ist daher durchaus als politische
Positionierung zu begreifen. Selbst, wenn die Bewegung, wie vielerorts geschehen, die Einstellung der Kampfhandlungen fordert, werden
Regierung, Unternehmerverbände und Großgrundbesitzer kaum etwas einzuwenden haben.
Der kolumbianische Staat spekuliert auf einen Friedensschluss ohne soziale
Veränderungen, bei dem er sich selbst als Mittler zwischen den Extremen profilieren kann. Das macht sogar aus der Sicht derjenigen
Sinn, die die Paramilitärs finanzieren. Immerhin wurden die Todesschwadrone in Kolumbien Anfang der 80er Jahren nur deswegen ins
Leben gerufen, um die sozialen Protestbewegungen zu vernichten. Nun, da die Gewerkschaften geschwächt scheinen und zehntausende
von Oppositionellen tot sind, könnte auch der rechteste Flügel der Landoligarchie mit einer Demobilisierung der Paramilitärs
leben, solange die Besitzverhältnisse im Land unangetastet bleiben.
Allerdings kann sich die Dynamik der Friedensbewegung auch schnell
gegen die Mächtigen im Land wenden. "Die NO-MAS-Bewegung ist wie ein Damoklesschwert, das über uns genauso wie
über der Regierung schwebt", äußerte Domingo González, einer der Sprecher der ELN, bei einem
Telefoninterview. "Es ist deutlich geworden, dass die Leute den Krieg satt haben. Völlig offen ist jedoch, welche Art von Frieden
sie wollen. In Anbetracht der schweren Wirtschaftskrise und wachsender Arbeitslosigkeit kann die Bewegung der Kontrolle der großen
Medien sich auch schnell wieder entziehen." Das NO MAS könnte dann schnell als "Nie wieder Staatsmassaker,
Entlassungen und soziale Ungerechtigkeit" interpretiert werden, womit sich die kolumbianische Oberschicht unversehends selbst in der
Zwickmühle manövriert hätte.
Gespräche zwischen Guerilla und Regierung
Positiv ist mit Sicherheit, dass parallel zu den Demonstrationen die
Kontakte zwischen der Regierung und den beiden Guerillaorganisationen wieder an Dynamik gewonnen haben. Nach monatelangem Stillstand
nahm eine gemischte Delegation von Regierungsvertretern, Unternehmern und Politikern Ende Oktober Verhandlungen mit der
größten Guerilla des Landes, den KP-nahen Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) auf, bei denen
zunächst über die Einhaltung der Genfer Konventionen, soziale Reformen, einen Gefangenenaustausch und
Demokratisierungsmaßnahmen diskutiert werden soll. Auch spricht die Regierung nicht mehr davon, dass die FARC die von den Armee
geräumten 40.000 Quadratkilometer um die Verhandlungsorte in absehbarer Zeit wieder zurück geben müsse, wie dies noch
vor einigen Monaten anklang.
Auch der Verhandlungsprozess mit der radikaleren Nationalen
Befreiungsarmee (ELN), die sich in der Tradition von Guevarismus und Befreiungstheologie versteht, ist wieder in Gang gekommen. Mitte
1998 hatte die ELN in Deutschland mit zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Kolumbien die
Durchführung einer "Nationalkonvention" vereinbart. Für diese mehrmonatige Konferenz sollten alle gesellschaftlichen
Sektoren (darunter vor allem Basisorganisationen) in einem der Guerillagebiete zusammenkommen, um dort über mögliche
Transformationen der kolumbianischen Gesellschaft zu debattieren.
Damit gab die ELN bisher vorherrschende Verhandlungsmethodologien auf,
bei denen sich zwei Apparate - Staat und Guerilla - gegenübersitzen und über die Köpfe der Gesellschaft hinweg verhandeln.
Das Ziel der "Nationalkonvention" ist es erklärtermaßen, einen Transformationsprozess von unten zu unterstützen.
Auf Druck der USA, die um jeden Preis verhindern will, dass der ELN (so
wie bereits den FARC) eine Art "autonomes Gebiet" innerhalb Kolumbiens zugebilligt wird und eine unberechenbare soziale
Massenbewegung entsteht, boykottierte die Regierung Pastrana jedoch bisher diese Initiative. Man werde, so der Präsident noch vor
wenigen Wochen, der Guerilla keine weiteren Gebiete überlassen.
Jetzt jedoch, nachdem die ELN mit mehreren spektakulären Aktionen
die Interessen der Oberschicht direkt berührt hat, lenkte Pastrana ein. Seit September führten Regierungssprecher mit den ELN-
Kommandanten Pablo Beltrán und Ramiro Vargas in Venezuela und Kuba mehrere Gesprächsrunden, die weiter fortgesetzt
werden sollen. Angeblich sind sogar schon Vorvereinbarungen für die Abhaltung der Nationalkonvention getroffen worden. Pastrana
sprach gegenüber der kolumbianischen Presse von einem Beginn vor der Jahreswende, während die ELN bis zur Unterzeichnung
eines konkreten Plans Zurückhaltung üben will.
Raul Zelik
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