Sozialistische Zeitung |
Grenzenlose Feindschaft des albanischen Volkes Serbien gegenüber ist das erste wirkliche Resultat der
Albanienpolitik der serbischen Regierung. Das zweite, und gefährlichere Resultat ist die Stärkung zweier Großmächte
in Albanien, die im Balkan die größten Interessen haben."
Ein Zitat von 1999? Nein - das ist die Quintessenz des Fazits, das Dimitrije
Tucovic 1914 aus den von ihm unmittelbar geteilten Erfahrungen des Krieges zog, der der serbischen Bourgeoisie über Albanien den
Zugang zum Mittelmeer schaffen sollte und in dessen Folge das überwiegend albanische Kosovo Opfer des - so Tucovic - serbischen
Kolonialismus wurde.
Dimitrije Tucovic war Führer der linken Fraktion der
Sozialdemokratischen Partei Serbiens (SDPS) vor dem Ersten Weltkrieg. Zusammen mit der Fraktion der "Engherzigen" in der
bulgarische SP und den russischen Bolschewiki Lenins war diese serbische Partei die einzige, die auch im Ersten Weltkrieg internationalistisch
blieb und ihrer eigenen Bourgeoisie die Kriegskredite verwehrte.
Diese marxistische Position hatte Tucovic auch in den beiden dem
Weltkrieg unmittelbar vorausgegangenen Balkankriegen von 1912 und 1913 verteidigt. Die vorliegende Untersuchung "Serbien und
Albanien", die von der Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) in Wien in diesem Jahr dankenswerterweise sowohl auf Serbokroatisch als
auch auf Deutsch wiederveröffentlicht wurde, erschien 1914 in Belgrad.
Tucovic, der gezwungen gewesen war, am Krieg gegen das noch zum
Osmanischen Reich gehörende Albanien teilzunehmen, beschreibt zunächst die sozioökonomischen Strukturen Albaniens und
setzt der schon damals in Serbien verbreiteten chauvinistischen Propaganda gegen die albanischen "Wilden" eine materialistische
Sichtweise der sozialen und kulturellen Unterentwicklung entgegen, deren Opfer die Albaner im Laufe der Geschichte geworden sind. In drei
weiteren Kapiteln zeigt er die Entwicklung der albanischen Nationalbewegung, der wirtschaftlichen und strategischen Interessen der regionalen
Mächte und schließlich die Entwicklung der Politik der serbischen Bourgeoisie gegenüber den Albanern auf.
Gerade angesichts jener serbisch- oder jugoslawisch-nationalistischen
Linken hierzulande, die seit geraumer Zeit Albaner tendenziell nur als Ethnoterroristen, Werkzeuge der NATO und Drogenhändler
wahrnehmen können, ist die Parallelität zu sozialen und politischen Entwicklungen der bei den gleichen politischen Kräften
oft so beliebten Kurden und zum Bild der Kurden bei den Nachbarvölkern oft frappierend.
Dimitrije Tucovic ist ein unschätzbarer Kronzeuge für die
ansonsten mit dem Namen Lenins verbundene internationalistische Position, nach der die einzig mögliche progressive Lösung der
aus der ethnischen Vielfältigkeit des Balkans herrührenden Probleme die Einheit in einer Föderation der Balkanstaaten auf
der Basis völliger Freiwilligkeit ist. Er zeigt, wie die Missachtung einer solchen Haltung durch die herrschende Klasse Serbiens das
nationale Erwachen der Albaner und die Interessen des Imperialismus gefördert hat.
Zum Schluss seiner Untersuchung schreibt er in Bezug auf das Scheitern des
serbischen Vorstoßes zum Mittelmeer: "Da mit der Niederlage der Eroberungspolitik die lange Reihe von Gefahren und Opfern in
Hinsicht auf die Freiheit des serbischen Volkes und der Zukunft Serbiens nicht aus ist, ist es notwendig, zumindest jetzt der Wahrheit ins
Gesicht zu sehen und entgegen allen Vorurteilen einzugestehen, dass der Kampf, den der albanische Stamm heute führt, ein
natürlicher, unumgänglicher historischer Kampf für ein anderes politisches Leben ist, als man es unter der türkischen
Herrschaft lebte, ein anderes auch, als man von Seiten seiner Nachbarn, Serbien, Griechenland und Montenegro den Albanern aufzwingen
möchte. Das freie, serbische Volk sollte diesen Kampf schätzen, erstens wegen der Freiheit der Albaner, und zweitens wegen der
eigenen, und es sollte jeder Regierung die Mittel für eine Unterdrückungspolitik versagen."
Die Stalinisierung der KP Jugoslawiens, der multinationalen Nachfolgerin
der SDPS, hat diese Perspektive leider verschüttet. Die Tatsache, dass die Region heute in so vieler Hinsicht wieder dort steht, wo sie
Tucovic zufolge schon 1914 stand, ist das tragische Ergebnis.
Anton Holberg