Sozialistische Zeitung |
Eine multilaterale Totgeburt in Seattle" titelte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zum Scheitern der
großspurig als "Millenniumsrunde" angekündigten Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO). Nicht einmal
ein Fahrplan für die vorgesehene dreijährige Verhandlungsrunde konnten die Delegierten der 134 Mitgliedstaaten erstellen. Die
Gegner der WTO freuten sich hingegen über das "Gewicht des öffentlichen Widerstands". Einige triumphierten etwas
voreilig über den "Todesstoß für den freien Welthandel". Die NZZ spuckt als eines der führenden
Wirtschaftsblätter Europas Gift und Galle, warnt vor dem "wachsenden Einfluss der NGOs", spricht von
"selbsternannten Weltverbesserern" und bemüht angebliche "Fakten", die auch die "hartgesottensten Gegner
der Freihandelstheorie nicht unter den Teppich kehren können": das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit, das nach Ansicht der
NZZ nicht ohne "sukzessive Liberalisierungen des grenzüberschreitenden Handels" möglich gewesen wäre.
Etwas moderater gibt sich die Financial Times. Sie hebt zwar auch einen
"PR-Sieg einflussreicher Freihandelsgegner" hervor, betont aber gleichzeitig die innenpolitischen Rücksichten, die vor allem
den Spielraum der US-amerikanische Verhandlungsdelegation eingeschränkt hätten.
Tatsächlich hat Präsident Clinton in seiner Seattle-Rede am
1.Dezember das Fass zum Überlaufen gebracht. Mit Blick auf die gewerkschaftliche Wählerklientel der Demokratischen Partei, die
zur selben Zeit gegen "Billigimporte aus dem Ausland" auf den Straßen Seattles demonstrierte, insistierte er auf der
Einführung von sanktionsfähigen Sozialklauseln. Das brachte ihm zwar ein Schulterklopfen des Präsidenten des
Gewerkschaftsdachverbands AFL-CIO, John Sweeney, ein, der bereits einen Monat zuvor gemeinsam mit Wirtschaftsbossen eine
Erklärung zur Unterstützung der US-amerikanischen Verhandlungsposition unterzeichnete. Doch die Vertreter zahlreicher
Regierungen aus den Ländern der Dritten Welt fühlten sich hintergangen, denn sie hatten schon lange vor dem Ministertreffen klar
ihre Ablehnung von Sozialklauseln in der WTO deutlich gemacht, von denen sie einen neuen Protektionismus befürchten.
Während die Hitze auf der Straße während der letzten
beiden Tage etwas abkühlte, stiegen die Temperaturen im Kongressgebäude. Der WTO-Generaldirektor Mike Moore wurde
ausgepfiffen und sogar die mit den USA in der einflussreichen Cairns-Gruppe vereinigten Länder kündigten Clinton
größtenteils ihre Gefolgschaft auf.
Die US-Handelsbeauftragte Charlene Barshefsky goss anschließend
noch Öl ins Feuer, indem sie Sonderausschüsse einrichtete, die in kleinem Kreise die brennendsten Themen verhandeln sollten.
Damit verstoße Barshefsky in bester WTO-Tradition gegen das Prinzip der Transparenz, beklagten sich Delegierte aus
Drittweltländern, die zum Teil stundenlang auf Einlass in die Sonderberatungen hatten warten müssen.
Auch das Verhältnis zwischen EU und USA bleibt nach wie vor
zerstritten. Beim Thema Agrarsubventionen konnte keine Einigung erzielt werden. Die EU besteht zudem weiterhin auf einer breit angelegten
Tagesordnung, die auch Investitionen und öffentliches Beschaffungswesen umfasst. Die Financial Times fordert EU und USA in einem
Fünf-Punkte-Programm auf, ihre Streitigkeiten möglichst schnell beizulegen. Am besten solle die EU, die in der Frage des
Bananenhandels und der hormonbehandelten Rindfleischs die falsche Entscheidung getroffen habe, ädequate Kompensationszahlungen
tätigen, wenn sie auch künftig nicht auf die Vereinbarkeit ihrer Politik mit den WTO-Regeln achte.
Doch das ist nicht die einzige Hürde, die die WTO künftig
überwinden muss. Mit dem Scheitern der Verhandlungen hat sich die Legitimationskrise ihrer Politik vertieft. Da helfen auch keine
Appelle, dass Regierungen und Wirtschaft den Freihandel auch auf "moralischer Ebene" verankern müssen.
Nicht mit Moral, sondern mit dem Kalkül der Macht wird der
weitere Fahrplan der WTO bestimmt. "Wie auch immer, bisher ist kein Zeitpunkt für ein resümierendes Treffen in Genf
festgelegt worden … Viele Länder sehen wenig Hoffnung für einen Fortschritt vor den us-amerikanischen
Präsidentschaftswahlen kommenden November", erklärt Moore etwas resigniert. Dann werden die Karten neu gemischt.
Gerhard Klas
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