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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 09.12.1999, Seite 3

Kapitalismus? Nein danke!

Zwei Tage in Seattle. Ein Tagebuch

Dienstag, 30.November
Ich habe mich immer geärgert über die Unfähigkeit von Amerikanern, gehörig Krach zu schlagen. Bis heute. Früh morgens gingen tausende nach Downtown-Seattle und hielten die Delegierten der Welthandelsorganisation davon ab, sich zu treffen. Eine Gruppe von schwarz vermummten Anarchisten skandierte einen Slogan von enormer ideologischer Kraft und Klarheit: "Capitalism? No thanks! We will burn your fucking banks!" Im Verlauf des Tages setzten die Cops - zurückhaltender als die meisten ihrer Kollegen und im Vergleich zum New York Police Department geradezu Softies - Pfeffergas und Gummigeschosse ein. Downtown blieb weitgehend dicht - und die schwarzen Hubschrauber oben drehten weiter ihre Runden.
Am späten Nachmittag erklärte der Bürgermeister eine Ausgangssperre und der Gouverneur aktivierte die Nationalgarde. Die Strassen wurden geräumt, aber die Aktivisten sollen zu diesem Zeitpunkt längst zu Hause gewesen sein und sich auf den nächsten Tag vorbereitet haben. Da Bill Clinton morgen auf der Tagung sprechen soll, ist die offizielle Seite fest entschlossen, den Weg freizuräumen. Wir werden sehen.
Neben dem Ausnahmerecht war einer der Tageshöhepunkte eine massive Arbeiterkundgebung mit Demonstration, beide vom US-amerikanischen Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO gesponsert. Die Veränderung der Rhetorik bei den US-Gewerkschaften in den letzten fünf Jahren - einfach unglaublich! Die nationalistischen Parolen sind weitgehend - aber noch nicht ganz - verschwunden und wurden durch eine Rhetorik internationaler Arbeitersolidarität ersetzt.
Gewerkschafter aus der ganzen Welt sprachen, einige von ihnen ziemlich hitzig. Ein mexikanischer Gewerkschafter lobte die Zapatisten, und ein südafrikanischer Minenarbeiter nannte sogar Marx beim Namen. Er drängte die Arbeiter der Welt, sich zu vereinen. Und die Menge applaudierte laut. Doch George Becker, Präsident der United Steelworkers of America, klagte lauthals, dass "Importe über unsere Grenzen geschwappt kommen". Und einige Teamsters entfalteten ein Transparent mit der Forderung, die Grenze zur Abschreckung mexikanischer Lastwagen zu schließen. Aber Beleidigungen wie diese gab es erfreulich wenige.
Ein paar der US-amerikanischen Sprecher klangen richtig militant. Der Präsident der International Longshore and Warehouse Union verkündete stolz, dass seine Leute die Westküstenhäfen von Seattle bis hinunter nach San Pedro dichtgemacht hätten. Er erinnerte an die Geschichte seiner Gewerkschaft: von der Unterstützung für salvadorenische Arbeiter und die Docker im britischen Liverpool. Gerald McEntee, Präsident der American Federation of State, County, and Municipal Employees drängte, "das System zu benennen", das uns unterdrücke und "alles zur Ware" mache, "vom Wald in Brasilien bis zur Bücherei in New Jersey" - das System des "corporate capitalism". Jay Masur, Präsident der Kleidung- und Textilgewerkschaft UNITE!, rief Umweltschützer und Arbeiter in der ganzen Welt zur Einheit auf.
Zusammengehörigkeit war das Thema der Arbeiterdemonstration, nicht nur Solidarität zwischen Arbeitern, sondern der organisierten Arbeiter mit allen anderen. Es gab nie dagewesene Konstellationen, z. B. von Teamster-Präsident James Hoffa, der auf derselben Bühne stand wie studentische Anti-Sweatshop-Aktivisten. Es gab Leute der Basisgruppe Earth First, die zusammen mit Mitgliedern des konservativen Sierra-Clubs liefen. Eine Kette der barbrüstigen Lesbian Avengers bahnte sich den Weg durch eine Masse von Maschinenschlossern.
Trotz der Ausgangssperre fand eine Debatte in der Town Hall statt. Auf der Pro-WTO-Seite befanden sich der Procter&Gamble-Lobbyist Scott Miller (er ist auch Chef der US Alliance for Trade Expansion, einer Exportlobby), der stellvertretende Handelsminister David Aaron und der Wirtschaftswissenschaftler Jagidsh Bhagwati von der Columbia- Universität. Gegen die WTO waren John Cavanagh vom Institute for Policy Studies, die indische Physikerin Vandana Shiva und der Verbraucheranwalt und ehemalige grüne Präsidentschaftskandidat Ralph Nader.
Miller betete auf ziemlich niedrigem Niveau Unternehmensprogaganda herunter. Aaron verbreitete die neue politische Linie der Regierung, derzufolge an den Protesten schon etwas dran sei, und dass Handel "clean, green, and fair" sein solle.
Bhagwati war der präziseste und klügste von allen: wie die meisten Wirtschaftswissenschaftler ein Anhänger des Freihandels, aber auch ein Kritiker der freien Bewegung von spekulativem Kapital und ein Fürsprecher für größere soziale Absicherungen. Er argumentierte, hinter den Klagen über ausländische Sweatshops stecke ein großes Maß Heuchelei, wenn es sie en masse mitten in den USA gibt, ebenso wie Migrationsarbeiter, die unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten.
Die Nein-Seite genoss die Sympathie des Publikums. Aaron und Miller wurden mehrmals ausgepfiffen. Doch auch die WTO-Kritiker enthüllten ihre Schwächen. Gefragt, was passieren würde, wenn wir big business "ausschalten" würden, sagte Cavanagh richtigerweise, dass Großfirmen relativ wenig Menschen anstellen. Aber diese Menschen, behauptete er, könnten leicht von kleinen Firmen wieder angestellt werden. Nicht enthüllen mochte Cavanagh, woher wir dann unsere Computer, Telefone und Dieselmotoren bekommen würden.
Aaron fragte Nader scharf, wie ein Verbraucheranwalt die Verringerung von Importen empfehlen könne, da dies geringere Auswahlmöglichkeiten und heimische Monopole zur Folge hätte. Nader, der zu ernsthafter ökonomischer Analyse offenbar nicht fähig ist, behauptete, dass die Reduktion von Ölimporten zugunsten von Energieeigenversorgung eine gute Sache wäre. Als lägen die Vorteile von Selbstversorgung auf der Hand.
Shiva machte die WTO zurecht als Agentur des Imperialismus nieder, aber drängte auf "die Rückkehr zur nationalen Entscheidungsfindung, die wir kontrollieren". Offenbar ist ihr weder aufgefallen, dass der Nationalstaat selbst ein imperiales Erbe ist. Noch enthüllte sie, wann dieses "wir" jemals die Regierung stellte. Von Indien sprach sie als Einheit, als wäre dieses Land nicht aufgespalten in Klassen, Ethnien und Regionen. Ebenso behauptete sie, Handel sei einst durch ethnische Schranken bestimmt gewesen, mit der WTO aber sei die Profitmaximierung eingekehrt. Eine merkwürdige Version von kapitalistischer Geschichte.

Mittwoch, 1.Dezember
Seattle befindet sich im Belagerungszustand. Cops, in angsterregendes Schwarz gekleidete Paramilitärs und Soldaten der Nationalgarde, die mit nichts anderem als Knüppeln bewaffnet sind, stehen an jeder Kreuzung. Den Tag über gab es vereinzelte Demonstrationen, aber nichts kam an die von gestern heran. Die WTO-Delegierten konnten sich treffen, aber niemand achtet anscheinend auf das offizielle Geschehen. Der Gipfel erscheint als Fußnote gegenüber dem eigentlichen Ereignis, der Mobilisierung.
Aber nicht alles ist gänzlich ruhig. Stahlarbeiter und Umweltschützer veranstalteten eine gemeinsame Tea Party, indem sie massenhaft Stahl (als Symbol von Importen) und hormonbehandeltes Rind über den Pier ins Meer warfen. Einigen jungen Leuten dauerten die Reden zu lang. In Begleitung einiger Stahlarbeiter und Teamsters marschierten sie downtown. Um einer Phalanx Cops, die von rechts kam, auszuweichen, drehten sie nach links ab - ungefähr tausend, unter einem Transparent mit der Aufschrift "Capitalism can‘t be transformed” - und brachten den Verkehr zum Erliegen. Ein Panzerwagen mit Cops tauchte auf, die Cops sprangen ab und schossen Tränengas sowie Gummigeschosse ab. Die Autos waren mittendrin. Die Cops wurden richtig gemein und erschütterten das liberale Image, mit dem sich die Stadt sonst gerne schmückt.
Ein Kollege sagte heute, eigentlich bestehe die große Story darin, dass die AFL-CIO es am Dienstag nicht übers Herz gebracht hat, seine Demonstranten zur Unterstützung der jungen Menschen zu schicken, die die Straßen blockierten. Die Belohnung für dieses Wohlverhalten sei die Audienz gewesen, die Bill Clinton dem Chef der AFL-CIO, John Sweeney, gewährte.
Für mich dagegen ist die Big Story, dass die AFL-CIO überhaupt in all ihrer offiziellen Kapazität hier ist und dass viele hochrangige Gewerkschafter auf den Straßen sind. Stahlarbeiter - vor allem Streikposten von Kaiser Steel - stellten einen großen Anteil bei der oben genannten Demo. Ich sah jemand mit einer Teamster-Mütze, der "Fuck the corpos" (Scheiß auf die Konzerne) schrie. Das ist wirklich nicht das Routineverhalten der amerikanischen Arbeiterklasse. Wenn Sweeney seine Leute zu den Straßenblockierern geschickt hätte, wäre das ein vorrevolutionärer Akt gewesen - ein genüsslicher Gedanke, aber der Realität wohl etwas zu weit voraus. Trotzdem gibt es sichtbare Risse zwischen Gewerkschaften und Demokratischer Partei. Und die sollten gelobt und erweitert werden.
Die Bewegung selbst sollte als Teil einer weltweiten Mobilisierung gesehen werden, die mehr und mehr antikapitalistische und weniger bloß antiglobalistische Positionen einnimmt - ein Ergebnis der weltweiten Demos am 18.Juni gegen den G7-Gipfel und eng verwandt mit der Anti-Weltbank-IWF-Bewegung. Diese Themen der politischen Ökonomie waren vor weniger als zehn Jahren noch ein Fachgebit von Spezialisten. Jetzt stehen sie im Mittelpunkt von umfangreicher politischer Mobilisierung. Die Demonstranten sagen heute: "Wir haben gewonnen." Das stimmt. Aber es ist unklar, was langfristig die Früchte dieses Sieges sein werden. Im ersten Moment schmecken sie jedenfalls sehr süss.
Doug Henwood

Doug Henwood ist Herausgeber des Left Business Observer. Übersetzung und Bearbeitung: Max Böhnel.


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