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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 09.12.1999, Seite 9

Rente mit 60

Instrument gegen weitere Wochenarbeitszeitverkürzung?

Der IG-Metall-Vorstand fordert derzeit im Rahmen des "Bündnis für Arbeit" und im Zusammenhang mit der Anfang nächsten Jahres beginnenden Einkommenstarifrunde die "Rente mit 60". In Absprache mit dem DGB und der DAG zielt die IG Metall auf eine auf mindestens fünf Jahre befristete Aktion, nach der alle Beschäftigten mit 35 Versicherungsjahren einen Rechtsanspruch auf Frührente mit 60 haben sollen, um damit - wie es heißt - "Platz für Jüngere" zu machen. Eine sinnvolle "arbeitsmarktpolitische" Maßnahme angesichts der von der Bundesregierung versprochenen, aber weitgehend ausgebliebenen Senkung der Erwerbslosenzahlen? Große Skepsis ist angebracht.
Derzeit beträgt das Renteneintrittsalter im Schnitt zwar schon 60, obwohl es gesetzlich (in Stufen) inzwischen auf 63 für die Frau und 65 für den Mann angehoben wurde. Für Schwerbehinderte besteht nämlich noch die Möglichkeit, mit 60 auszuscheiden, ebenso für Beschäftigte, die mindestens ein Jahr lang arbeitslos waren sowie für Arbeitnehmer mit fünfjähriger Altersteilzeit. Aber: Das vorzeitige Ausscheiden mit 60 Jahren ab Jahrgang 42 bringt relativ hohe Rentenverluste von 0,3% pro Monat mit sich, in der Spitze 18%, und zwar über den gesamten Rentenverlauf. Dies hat das Ausscheiden in allen Bereichen, die keine "komfortablen" Sozialplanregelungen kennen, wie z.B. in Stahl und Bergbau, für die Betroffenen sehr teuer gemacht. Und die Ära der "komfortablen" Sozialpläne läuft im Zuge der gesetzlichen Änderungen noch unter der Regierung Kohl unwiderbringlich aus.
Das aktuelle IG-Metall-Modell, bei dem sowohl Arbeitgeber als auch Bundesregierung mitziehen müssten, zielt indes nicht auf eine allgemeine Senkung des Rentenalters auf 60, sondern soll das vorzeitige Ausscheiden aus dem Betrieb unter vertretbaren Bedingungen für einen bedeutenden Teil der Beschäftigten erleichtern. Im Unterschied zu den bisherigen Sozialplänen in den großen Branchen soll es nicht so laufen, dass die Ausscheidenden gewissermaßen den Arbeitsplatz mitnehmen. Und im Unterschied zu den bestehenden gesetzlichen und tariflichen Altersteilzeitregelungen soll ein individueller Rechtsanspruch eingeführt werden nach dem Motto: "Wer gehen will, muss gehen können."
Gegenüber den diversen Altersteilzeitregelungen, wo die Zahl der Vorruheständler betrieblich ausgehandelt wird, wäre das neu. Ende September 1997 kam es im traditionell starken IG-Metall- Bezirk Nordwürttemberg-Nordbaden zu einem Pilotabschluss über die Altersteilzeit, der dann auch anderswo übernommen wurde. Nach diesem Tarifvertrag, der erst über Betriebsvereinbarungen wirksam werden kann, besteht kurz gesagt die Möglichkeit für ältere Beschäftigte, ab dem 61.Lebensjahr in den Vorruhestand zu gehen, wenn sie zwei Jahre en bloc arbeiten und mit 63 ausscheiden - 2 Jahre früher als nach der damaligen gesetzlichen Verschlechterung. Die Regelungen sind mit deutlich weniger Lohn- und Rentenverlusten verbunden, weil die Unternehmen aufstocken.
Die Altersteilzeit hat sich allerdings nicht als der Renner erwiesen, als der sie angepriesen wurde, denn beide Seiten müssen zustimmen und nach der rein gesetzlichen Regelung hat der Unternehmer die Kosten zu tragen, wenn der Arbeitsplatz nicht wieder besetzt wird.
Erleichtert werden soll nach dem aktuellen Vorschlag der IG Metall nicht nur das vorzeitige freiwillige Ausscheiden, sondern es soll für die Unternehmen auch ein stärkerer Anreiz für Neueinstellungen von Jüngeren gegeben werden. Und zwar dadurch, dass der Unternehmer seine Aufwendungen für das Ausscheiden eines Beschäftigten bei einer Neueinstellung aus einem zu bildenden Tariffonds zurückerstattet bekommt. Damit, so das Kalkül der IG Metall, soll vermieden werden, dass die Unternehmer mit diesem Modell nur den Personalabbau finanzieren.
Offen ist bisher die Finanzierungsfrage. Die IG Metall schlägt vor, die fälligen Rentenverluste (von 0,3% pro Monat des früheren Ausscheidens, d.h. bis zu 18% für 5 Jahre und einer Summe von bis zu 100.000 DM) zum großen Teil durch einen Tariffonds auszugleichen. Dieser soll im Verhältnis 50:50 von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gefüllt werden. Wie? Indem alle unter den Tarifvertrag fallenden Beschäftigten 0,5% der künftigen Lohnerhöhungen einzahlen, und zwar steuerfrei. Gleiches gälte für die Unternehmer.

Ablehner
Die Bundesregierung hat sich bisher sehr schwer getan mit dem Vorstoß, inzwischen scheint es eine gewisse Bereitschaft zu geben, sich dem IG-Metall-Modell zu nähern. Grund für ihre Vorbehalte sind sicher die auf 7 Milliarden Mark geschätzte "Anschubfinanzierung" und der massive Widerstand aus dem Unternehmerlager. Grund für die neue "Aufgeschlossenheit" von Schröder, Riester und Co. dürfte die Kette von Wahlniederlagen angesichts der massiven Enttäuschungen über ihre Politik sein. Die Schröder-Regierung will sich schließlich an ihren Erfolgen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit messen lassen!
Die Arbeitgeberverbände lehnen das bisher strikt ab. Sie befürchten u.a. dass die IG Metall die künftigen Entgeltforderungen bzw. -erhöhungen "künstlich" hochtreiben werde, um den Tariffonds zu speisen. Ein Problem ist auch die heutige Struktur der Metallindustrie, wo die Großbetriebe längst nicht mehr überwiegen. Die Auseinandersetzung könnte neue Gefahren für den Flächentarifvertrag und die Tarifgebundenheit heraufbeschwören, wenn kleinere und mittlere Unternehmen - die das IG-Metall-Modell besonders scharf ablehnen - den ohnehin vorhandenen Trend zur Tarifflucht verstärken.
Sollte die nächste Runde im "Bündnis für Arbeit" am 12.12. keine Lösung bringen, so bestehen allerdings kaum noch Chancen für den Vorstoß der IG Metall. Der Vorstand der IG Metall hat bereits durchblicken lassen, dass nach dem Scheitern auch dieses Vorschlags eine weitere Mitarbeit im "Bündnis für Arbeit" sinnlos werde.

Offene Fragen und Gefahren
Umfragen beweisen, dass eine Frührente mit 60 sehr populär wäre. Die Menschen wollen raus aus dem Erwerbsleben, weil sie dem unerhörten Leistungsdruck nicht mehr gewachsen sind.
Aber an der Basis der IG Metall gibt es noch zahlreiche Fragen. So darf nicht übersehen werden, dass zwar die 18% Rentenverluste ausgeglichen werden sollen, dem/der Betroffenen aber fünf rentensteigernde Beitragsjahre fehlen!
Wie realistisch ist außerdem, dass einige hunderttausend Frührentner auch durch Neueinstellungen ersetzt werden? Die Rechenmodelle der IG Metall - die allein in ihrem Organisationsbereich mit etwa 140.000 Neueinstellungen und in der Gesamtwirtschaft mit rd. 1 Million rechnet - werden unter den Beschäftigten mit Skepsis aufgenommen. Die negativen Erfahrungen mit den flexibilisierten Arbeitszeitverkürzungen der neunziger Jahre, die mit Rationalisierung und massiver Leistungsverdichtung verbunden waren, sitzen tief.
Kritische Gewerkschaftsfrauen weisen daraufhin, dass das ganze Vorhaben im Wesentlichen nur auf Männer abziele, denn nur wenige erwerbstätige Frauen bringen die verlangten 35 Beitragsjahre mit. Das Vorhaben der IG Metall droht darüber hinaus erneut einen langjährigen Entgeltverzicht in den kommenden Tarifrunden auszulösen, der an die schlimmen Erfahrungen der 90er Jahre anknüpft.
Das ist nicht gerade ein Anreiz zur Solidarität für die Masse der Mitglieder, wenngleich eine Verzichtsbereitschaft durchaus vorhanden ist, wenn handfeste Erfolge im Kampf gegen die Massenerwerbslosigkeit möglich scheinen. Die Lohnquote liegt auf dem Stand der 50er Jahre in Westdeutschland, und entgegen aller Propaganda von Politik und Kapital wurden dadurch nicht mehr Beschäftigung, sondern lediglich höhere Profite bei immer weniger Kapitaleignern erzielt.
Was wird sonst noch der tarifpolitische Preis sein, den die Gewerkschaften zu zahlen bereit sind? Die Gefahr ist riesengroß, dass eine weitere kollektive Wochenarbeitszeitverkürzung, die erfahrungsgemäß wirksamste Form im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, dann endgültig auf den St.Nimmerleinstag verschoben wird. Sie wäre der "überzeugendste" und verlockendste Preis für die Kapitalseite. Der jüngste Gewerkschaftstag endete ohne klare tarifpolitische Schwerpunktsetzung, weil die Gegner weiterer Wochenarbeitszeitverkürzung enorm erstarkt sind.
Manche der Funktionsträger und Betriebsrats"fürsten" haben ihre eigenen Gründe, vor allem die Rücksicht auf den "Standort Deutschland" und auf die Regierung Schröder. Andererseits ist weitere Wochenarbeitszeitverkürzung derzeit nicht sehr attraktiv, weil sich die strategischen Fehler der Gewerkschaften seit Beginn der 90er Jahre - Lohnzurückhaltung, grundlegende Akzeptanz der Flexibilisierung, Versagen bei der tariflichen Leistungsbegrenzung - inzwischen bitter rächen.
Die Gewerkschaften sind heute nicht nur einem unerhört scharfen Druck des Kapitals ausgesetzt, sie wurden auch von den eigenen Fehlern eingeholt.
Bereits 1997 hatte die IG Metall die kündbaren Arbeitszeitbestimmungen dem Altersteilszeittarifvertrag geopfert und bis Ende 2000 festgeschrieben. Die Altersteilzeit erwies sich dann weitgehend als Flop. Nur etwa 30.000 Beschäftigte haben nach Angaben der IG Metall bisher davon Gebrauch gemacht. Die dadurch ausgelösten Neueinstellungen sind statistisch bedeutungslos. Selbst Zwickel räumte auf dem Gewerkschaftstag ein, der Preis dafür sei wohl zu hoch gewesen!
Im Handelsblatt - gewöhnlich gutunterrichtetes Sprachrohr des Kapitals - wurden Anfang November bereits Bedingungen lanciert, unter denen die "Zwickel-Rente" akzeptiert werden könne: Volle Anrechnung des 0,5%igen Arbeitgeberanteils auf den "Verteilungsspielraum" und "ohne zusätzliche Kostenbelastung", Härteklausel für "notleidende mittelständische Unternehmen", die entlassen müssten, um nicht pleite zu gehen und nicht wiederbesetzen könnten, "Abschluss eines mindestens dreijährigen (Entgelt- )Tarifvertrags" sowie Verzicht auf weitere Wochenarbeitszeitverkürzung.
Hermann Dierkes
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