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Der IG-Metall-Vorstand fordert derzeit im Rahmen des "Bündnis für Arbeit" und im
Zusammenhang mit der Anfang nächsten Jahres beginnenden Einkommenstarifrunde die "Rente mit 60". In Absprache mit dem
DGB und der DAG zielt die IG Metall auf eine auf mindestens fünf Jahre befristete Aktion, nach der alle Beschäftigten mit 35
Versicherungsjahren einen Rechtsanspruch auf Frührente mit 60 haben sollen, um damit - wie es heißt - "Platz für
Jüngere" zu machen. Eine sinnvolle "arbeitsmarktpolitische" Maßnahme angesichts der von der Bundesregierung
versprochenen, aber weitgehend ausgebliebenen Senkung der Erwerbslosenzahlen? Große Skepsis ist angebracht.
Derzeit beträgt das Renteneintrittsalter im Schnitt zwar schon 60,
obwohl es gesetzlich (in Stufen) inzwischen auf 63 für die Frau und 65 für den Mann angehoben wurde. Für
Schwerbehinderte besteht nämlich noch die Möglichkeit, mit 60 auszuscheiden, ebenso für Beschäftigte, die
mindestens ein Jahr lang arbeitslos waren sowie für Arbeitnehmer mit fünfjähriger Altersteilzeit. Aber: Das vorzeitige
Ausscheiden mit 60 Jahren ab Jahrgang 42 bringt relativ hohe Rentenverluste von 0,3% pro Monat mit sich, in der Spitze 18%, und zwar
über den gesamten Rentenverlauf. Dies hat das Ausscheiden in allen Bereichen, die keine "komfortablen"
Sozialplanregelungen kennen, wie z.B. in Stahl und Bergbau, für die Betroffenen sehr teuer gemacht. Und die Ära der
"komfortablen" Sozialpläne läuft im Zuge der gesetzlichen Änderungen noch unter der Regierung Kohl
unwiderbringlich aus.
Das aktuelle IG-Metall-Modell, bei dem sowohl Arbeitgeber als auch
Bundesregierung mitziehen müssten, zielt indes nicht auf eine allgemeine Senkung des Rentenalters auf 60, sondern soll das vorzeitige
Ausscheiden aus dem Betrieb unter vertretbaren Bedingungen für einen bedeutenden Teil der Beschäftigten erleichtern. Im
Unterschied zu den bisherigen Sozialplänen in den großen Branchen soll es nicht so laufen, dass die Ausscheidenden
gewissermaßen den Arbeitsplatz mitnehmen. Und im Unterschied zu den bestehenden gesetzlichen und tariflichen Altersteilzeitregelungen
soll ein individueller Rechtsanspruch eingeführt werden nach dem Motto: "Wer gehen will, muss gehen können."
Gegenüber den diversen Altersteilzeitregelungen, wo die Zahl der
Vorruheständler betrieblich ausgehandelt wird, wäre das neu. Ende September 1997 kam es im traditionell starken IG-Metall-
Bezirk Nordwürttemberg-Nordbaden zu einem Pilotabschluss über die Altersteilzeit, der dann auch anderswo übernommen
wurde. Nach diesem Tarifvertrag, der erst über Betriebsvereinbarungen wirksam werden kann, besteht kurz gesagt die Möglichkeit
für ältere Beschäftigte, ab dem 61.Lebensjahr in den Vorruhestand zu gehen, wenn sie zwei Jahre en bloc arbeiten und mit 63
ausscheiden - 2 Jahre früher als nach der damaligen gesetzlichen Verschlechterung. Die Regelungen sind mit deutlich weniger Lohn- und
Rentenverlusten verbunden, weil die Unternehmen aufstocken.
Die Altersteilzeit hat sich allerdings nicht als der Renner erwiesen, als der
sie angepriesen wurde, denn beide Seiten müssen zustimmen und nach der rein gesetzlichen Regelung hat der Unternehmer die Kosten zu
tragen, wenn der Arbeitsplatz nicht wieder besetzt wird.
Erleichtert werden soll nach dem aktuellen Vorschlag der IG Metall nicht
nur das vorzeitige freiwillige Ausscheiden, sondern es soll für die Unternehmen auch ein stärkerer Anreiz für
Neueinstellungen von Jüngeren gegeben werden. Und zwar dadurch, dass der Unternehmer seine Aufwendungen für das
Ausscheiden eines Beschäftigten bei einer Neueinstellung aus einem zu bildenden Tariffonds zurückerstattet bekommt. Damit, so
das Kalkül der IG Metall, soll vermieden werden, dass die Unternehmer mit diesem Modell nur den Personalabbau finanzieren.
Offen ist bisher die Finanzierungsfrage. Die IG Metall schlägt vor,
die fälligen Rentenverluste (von 0,3% pro Monat des früheren Ausscheidens, d.h. bis zu 18% für 5 Jahre und einer Summe
von bis zu 100.000 DM) zum großen Teil durch einen Tariffonds auszugleichen. Dieser soll im Verhältnis 50:50 von
Arbeitnehmern und Arbeitgebern gefüllt werden. Wie? Indem alle unter den Tarifvertrag fallenden Beschäftigten 0,5% der
künftigen Lohnerhöhungen einzahlen, und zwar steuerfrei. Gleiches gälte für die Unternehmer.
Ablehner
Die Bundesregierung hat sich bisher sehr schwer getan mit dem
Vorstoß, inzwischen scheint es eine gewisse Bereitschaft zu geben, sich dem IG-Metall-Modell zu nähern. Grund für ihre
Vorbehalte sind sicher die auf 7 Milliarden Mark geschätzte "Anschubfinanzierung" und der massive Widerstand aus dem
Unternehmerlager. Grund für die neue "Aufgeschlossenheit" von Schröder, Riester und Co. dürfte die Kette von
Wahlniederlagen angesichts der massiven Enttäuschungen über ihre Politik sein. Die Schröder-Regierung will sich
schließlich an ihren Erfolgen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit messen lassen!
Die Arbeitgeberverbände lehnen das bisher strikt ab. Sie
befürchten u.a. dass die IG Metall die künftigen Entgeltforderungen bzw. -erhöhungen "künstlich"
hochtreiben werde, um den Tariffonds zu speisen. Ein Problem ist auch die heutige Struktur der Metallindustrie, wo die Großbetriebe
längst nicht mehr überwiegen. Die Auseinandersetzung könnte neue Gefahren für den Flächentarifvertrag und die
Tarifgebundenheit heraufbeschwören, wenn kleinere und mittlere Unternehmen - die das IG-Metall-Modell besonders scharf ablehnen -
den ohnehin vorhandenen Trend zur Tarifflucht verstärken.
Sollte die nächste Runde im "Bündnis für
Arbeit" am 12.12. keine Lösung bringen, so bestehen allerdings kaum noch Chancen für den Vorstoß der IG Metall. Der
Vorstand der IG Metall hat bereits durchblicken lassen, dass nach dem Scheitern auch dieses Vorschlags eine weitere Mitarbeit im
"Bündnis für Arbeit" sinnlos werde.
Offene Fragen und Gefahren
Umfragen beweisen, dass eine Frührente mit 60 sehr populär
wäre. Die Menschen wollen raus aus dem Erwerbsleben, weil sie dem unerhörten Leistungsdruck nicht mehr gewachsen sind.
Aber an der Basis der IG Metall gibt es noch zahlreiche Fragen. So darf
nicht übersehen werden, dass zwar die 18% Rentenverluste ausgeglichen werden sollen, dem/der Betroffenen aber fünf
rentensteigernde Beitragsjahre fehlen!
Wie realistisch ist außerdem, dass einige hunderttausend
Frührentner auch durch Neueinstellungen ersetzt werden? Die Rechenmodelle der IG Metall - die allein in ihrem Organisationsbereich
mit etwa 140.000 Neueinstellungen und in der Gesamtwirtschaft mit rd. 1 Million rechnet - werden unter den Beschäftigten mit Skepsis
aufgenommen. Die negativen Erfahrungen mit den flexibilisierten Arbeitszeitverkürzungen der neunziger Jahre, die mit Rationalisierung
und massiver Leistungsverdichtung verbunden waren, sitzen tief.
Kritische Gewerkschaftsfrauen weisen daraufhin, dass das ganze Vorhaben
im Wesentlichen nur auf Männer abziele, denn nur wenige erwerbstätige Frauen bringen die verlangten 35 Beitragsjahre mit. Das
Vorhaben der IG Metall droht darüber hinaus erneut einen langjährigen Entgeltverzicht in den kommenden Tarifrunden
auszulösen, der an die schlimmen Erfahrungen der 90er Jahre anknüpft.
Das ist nicht gerade ein Anreiz zur Solidarität für die Masse
der Mitglieder, wenngleich eine Verzichtsbereitschaft durchaus vorhanden ist, wenn handfeste Erfolge im Kampf gegen die
Massenerwerbslosigkeit möglich scheinen. Die Lohnquote liegt auf dem Stand der 50er Jahre in Westdeutschland, und entgegen aller
Propaganda von Politik und Kapital wurden dadurch nicht mehr Beschäftigung, sondern lediglich höhere Profite bei immer weniger
Kapitaleignern erzielt.
Was wird sonst noch der tarifpolitische Preis sein, den die Gewerkschaften
zu zahlen bereit sind? Die Gefahr ist riesengroß, dass eine weitere kollektive Wochenarbeitszeitverkürzung, die
erfahrungsgemäß wirksamste Form im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, dann endgültig auf den St.Nimmerleinstag
verschoben wird. Sie wäre der "überzeugendste" und verlockendste Preis für die Kapitalseite. Der jüngste
Gewerkschaftstag endete ohne klare tarifpolitische Schwerpunktsetzung, weil die Gegner weiterer Wochenarbeitszeitverkürzung enorm
erstarkt sind.
Manche der Funktionsträger und
Betriebsrats"fürsten" haben ihre eigenen Gründe, vor allem die Rücksicht auf den "Standort
Deutschland" und auf die Regierung Schröder. Andererseits ist weitere Wochenarbeitszeitverkürzung derzeit nicht sehr
attraktiv, weil sich die strategischen Fehler der Gewerkschaften seit Beginn der 90er Jahre - Lohnzurückhaltung, grundlegende Akzeptanz
der Flexibilisierung, Versagen bei der tariflichen Leistungsbegrenzung - inzwischen bitter rächen.
Die Gewerkschaften sind heute nicht nur einem unerhört scharfen
Druck des Kapitals ausgesetzt, sie wurden auch von den eigenen Fehlern eingeholt.
Bereits 1997 hatte die IG Metall die kündbaren
Arbeitszeitbestimmungen dem Altersteilszeittarifvertrag geopfert und bis Ende 2000 festgeschrieben. Die Altersteilzeit erwies sich dann
weitgehend als Flop. Nur etwa 30.000 Beschäftigte haben nach Angaben der IG Metall bisher davon Gebrauch gemacht. Die dadurch
ausgelösten Neueinstellungen sind statistisch bedeutungslos. Selbst Zwickel räumte auf dem Gewerkschaftstag ein, der Preis
dafür sei wohl zu hoch gewesen!
Im Handelsblatt - gewöhnlich gutunterrichtetes Sprachrohr des
Kapitals - wurden Anfang November bereits Bedingungen lanciert, unter denen die "Zwickel-Rente" akzeptiert werden könne:
Volle Anrechnung des 0,5%igen Arbeitgeberanteils auf den "Verteilungsspielraum" und "ohne zusätzliche
Kostenbelastung", Härteklausel für "notleidende mittelständische Unternehmen", die entlassen
müssten, um nicht pleite zu gehen und nicht wiederbesetzen könnten, "Abschluss eines mindestens dreijährigen (Entgelt-
)Tarifvertrags" sowie Verzicht auf weitere Wochenarbeitszeitverkürzung.
Hermann Dierkes
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