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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 09.12.1999, Seite 10

Streikkomitees und Arbeiterselbstverwaltung

Russlands Arbeiterbewegung meldet sich zurück

Rostselmach in Rostow am Don

Eine der berühmtesten sowjetischen Fabriken für Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen, Rostselmach, ist seit Frühjahr 1998 Schauplatz mehr oder weniger regelmäßiger kollektiver Aktionen, die sich infolge der Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Situation des Betriebs entwickelt haben.
Durch den schwindelerregenden Anstieg der Energiepreise und dem damit zusammenhängenden Zusammenbruch des Absatzes ist diese aus dem Lot geraten. Zeiten des Rückgangs der Produktion werden nur durch den vollständigen Stillstand der Produktionskette unterbrochen. Anfang Oktober 1998 warteten die Arbeiter auf ihren Lohn seit August 1996. Ständig finden Entlassungen statt, und die Anzahl der Beschäftigten ist von 50.000 auf weniger als die Hälfte zurückgegangen. Die Arbeiter fordern die Zahlung der rückständigen Löhne und eine Politik gegen die Steigerung der Mieten.
Vor allem fordern sie die Einführung der Arbeiterkontrolle, d.h. "die Kontrolle über die Produktion und die gesamte Buchführung". Die Arbeiterkontrolle wird tatsächlich als das einzige Mittel betrachtet, die Fabrik wieder flott zu machen, weil die Arbeiter die einzigen sind, die ein Interesse an der Wiederaufnahme der Produktion und nicht an der Ausschlachtung der Betriebe haben, sagt Wera Arfanes, Mitglied des Arbeiterrats. Weder der Staat (Nationalisierung) noch die neuen Eigentümer (Privatisierung) gewährleisten das.
Um eine über den lokalen Rahmen hinausgehende Solidaritätsbewegung loszutreten, hatten sich Vertreter des Arbeiterrats im Sommer 1998 zu den Streikposten der Bergleute nach Moskau begeben. Doch die Initiative scheiterte an der zögerlichen Haltung der gewerkschaftlichen Führung der Bergleute (der unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft NPG).
Angesichts fehlender ausreichender Unterstützung seitens anderer Berufe und Branchen haben die Arbeiter von Rostselmach ihren Kampf zermürbt aufgegeben, zumal die Betriebsleitung die Situation wieder fest im Griff hat, die Löhne tropfenweise zahlt und die Arbeiter mit der ständigen Ankündigung ausländischer Investitionen, die noch nie eingetroffen sind, in der Hoffnung läßt, die Produktion werde doch wieder aufgenommen. Heute funktioniert der Betrieb fast gar nicht mehr, außer einigen Werkstätten, wo den Arbeitern 400 Rubel im Monat gezahlt werden.

Maschinenfabrik von Jasnogorsk (bei Tula)

Noch unglaublicher vor dem Hintergrund des siegreichen Kapitalismus, wie ihn Russland gegenwärtig durchmacht, ist die Aktion der Arbeiter von Jasnogorsk. Sie haben die alten Direktoren wegen Inkompetenz vor die Tür gesetzt, weil sie nichts unternahmen, den Betrieb wieder anzukurbeln, sich stattdessen alles aneigneten, was einen Profit versprach und schließlich die Fabrik stückweise verkauften.
Die Arbeiter waren es leid, keine Löhne ausgezahlt zu bekommen. Am 28.September 1998 gründeten sie sie ein Streikkomitee und wählten eine neue Betriebsleitung aus Vertretern der Arbeiter, die diesen verantwortlich sind.
Die alte Betriebsleitung und die lokalen Behörden waren derart fassungslos gegenüber diesem Coup, dass sie fast zwei Monate lang inaktiv blieben; während dieser Zeit wurde der Betrieb wieder aufgenommen.
Doch dann begann ein heftiger Kampf um die Kontrolle des Betriebs. Die von den Arbeitern gewählten Betriebsleiter wurden verhaftet und auf das Kollektiv heftiger Druck ausgeübt.
Schließlich wurden die Arbeiter gezwungen, sich dem Diktat der formellen Eigentümer, der Justiz und der lokalen Behörden zu beugen. Sie gaben die direkte Kontrolle über die Fabrik auf, behielten aber ihre Kampforganisationen - Arbeiterräte und eine kämpferische Gewerkschaft, deren Leitung neu gewählt wurde.
Vor allem haben sie offiziell die Bildung einer Kommission erreicht, die die Kontrolle über den Verkauf ausübt, wodurch sie eine Kontrolle über den Kapitalfluss erlangt haben.
Im Ergebnis wurden die ausstehenden Löhne nach und nach bezahlt und die Produktion langsam wieder angekurbelt. Das Kollektiv wurde durch den Kampf zusammengeschweißt, und die Arbeiter haben einige ihrer Illusionen hinsichtlich der Ausgewogenheit des Rechtssystems und der Unterstützung der Zentralmacht verloren. Die Erfahrung ist in ihrem Gedächtnis und ihrem Bewusstsein fest verankert.

GPZ-1, eine Kugellagerfabrik in Moskau

Arbeiter dieser Fabrik, die mit ihrer Geduld am Ende waren, haben im September/Oktober 1998 einen Streik angefangen, um die Betriebsleitung zu zwingen, die seit sechs Monaten ausstehenden Löhne zu zahlen - der Betrieb arbeitet rentabel, die Exporte ins Ausland machen mehr als 30% der Produktion aus.
Ein Streikkomitee und eine kämpferische Gewerkschaft wurden gegründet, die sich gegen die von der alten Gewerkschaft praktizierte Zusammenarbeit mit der Betriebsleitung wendet.
Die Arbeiter bekamen, was sie wollten, indem sie die Produktion vollständig blockierten und mit destabilisierenden Versammlungen in den Straßen Moskaus drohten. Die Betriebsleitung und der Moskauer Bürgermeister unternahmen daraufhin einige Anstrengungen, den Arbeiter die ausstehenden Löhne zu zahlen.
Heute kontrolliert das Streikkomitee die Aktivitäten der Betriebsleitung aus der Nähe.

Kombinat Wyborg, nahe St.Petersburg

Das Zellulosekombinat von Wyborg ist eines der bedeutendsten Russlands (es zählt heute 2000 Beschäftigte). Es befindet sich in einem Arbeitervorort von St.Petersburg und ist für die gesamte Stadt lebenswichtig. Der Privatisierungsprozess hat bereits 1993 eingesetzt und war von zahlreichen Gesetzesverstößen begleitet.
1995-1996 wurde das Unternehmen von den Leitern bewusst in den Bankrott geführt. Nach betrügerischen Manövern wurde es 1997 von einer britischen Firma (Nimonor) übernommen, die als Strohmann eines bekannten St.Petersburger Geschäftsmanns, eines gewissen Sabadach, genannt der "Wodkakönig", fungierte. Das Kombinat wurde dabei weit unter Wert verkauft, das war auch der Grund, weswegen der Konkurs erklärt worden war. Die Beschäftigten waren gegen den Ausverkauf, ihrer Meinung nach bedeutete er das Ende des Unternehmens. Die Gerichte in der Region St.Petersburg hatten den Verkauf für illegal erklärt, doch das Urteil ist niemals in Kraft getreten.
Nachdem die Beschäftigten zahlreiche Streiks organisiert und ein Streikkomitee gegründet hatten, übernahmen sie die Kontrolle der Fabrik, wählten einen neuen Betriebsleiter und entließen den alten, der keine Löhne gezahlt und den Betrieb bewusst in den Bankrott geführt hatte - dabei hatte er sich alle verfügbaren Geldvermögen angeeignet.
Seit zwei Jahren funktioniert der "Volksbetrieb" (alle Aktien gehören dem Arbeiterkollektiv, ohne individuelles Stimmrecht) wieder dank der Anstrengungen der Beschäftigten und der Solidarität anderer Unternehmen der Region. Die Aufträge nehmen zu, die Löhne werden seitdem rechtzeitig gezahlt, sogar Steuern. Um ihren Betrieb zu erhalten, stellen die Arbeiter regelmäßig Wachposten in der Fabrik auf.
Einen ersten Versuch, gewaltsam einzuschreiten, unternahmen die formellen Eigentümer bereits am 9.Juli 1999. Der Staatsanwalt und eine private Miliz begleiteten damals drei Personen, die sich als Vertreter der britischen Firma Alcem IK Ltd. ausgaben, an die Nimonor ihre Aktien für eine lächerliche Summe abgetreten hatte. Von wachhabenden Arbeitern gewarnt, konnten die Arbeiter die Angreifer zurückschlagen, wobei ihnen die städtische Polizei half.
Ein zweiter Versuch, sich gewaltsam Eintritt in die Fabrik zu verschaffen, geschah am 14.Oktober. Die formellen Eigentümer riefen diesmal Spezialeinheiten zu Hilfe, die in der Nacht in die Fabrik eindrangen. Die Wächter schlugen Alarm und leisteten, so gut sie konnten, Widerstand gegen die bewaffneten Milizen. Zwei Personen wurden von Kugeln schwer verletzt. Acht Arbeiter wurden von der Miliz in einem Teil der Fabrik als Geiseln festgehalten. Doch das Gebäude wurde schnell von 500 Arbeitern umzingelt, die die Angreifer zwangen, sich zurückzuziehen.
Die Justiz und die Regionalverwaltung ließen diesen Angriff geschehen. Die Medien lancierten eine Hetzkampagne gegen die Arbeiter, indem sie sie beschuldigten, sich mit Gewalt das Eigentum anderer anzueignen und keine Steuern zu zahlen. Die Zeitung Iswestija rief sogar dazu auf, Panzer gegen die Arbeiter einzusetzen, die man wie die Tschetschenen bombardieren müsse. Wenn die Ordnung des Kapitalismus bedroht scheint, und sei es nur durch eine Handvoll relativ isolierter und harmloser Arbeiter, fängt die Meute an zu bellen…

Internationale Solidarität tut Not

Wyborg ist nicht der einzige Fall, wo ein Betrieb, dessen Konkurs deklariert wurde, von den Beschäftigten kontrolliert wird, die ihn wieder flott gemacht haben und sich dagegen wehren, dass das Unternehmen für ein Butterbrot verscherbelt wird. Wer seine Solidarität mit den Arbeitern zum Ausdruck bringen will, kann das tun. Protest aus dem Westen hat enorme Wirkung. Denjenigen, die eine politische Vereinnahmung fürchten, sei gesagt, dass die kämpfenden Arbeiter von keiner einzigen Partei, keiner einzigen Gewerkschaft unterstützt werden. Immerhin bringen die KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) von Sjuganow als auch die RKRP (Kommunistische Arbeiterpartei Russlands) von Tjulkin ebenso wie kleine Parteien der extremen Linken, der Gewerkschaftsverband FNPR wie auch die neuen Gewerkschaften ihre Sympathie mindestens verbal zum Ausdruck. Doch die Arbeiter bekommen eher zu wenig Unterstützung als zu viel.
Catherine Samary
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