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Eine der berühmtesten sowjetischen Fabriken für Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen, Rostselmach, ist seit
Frühjahr 1998 Schauplatz mehr oder weniger regelmäßiger kollektiver Aktionen, die sich infolge der Verschlechterung der
wirtschaftlichen und sozialen Situation des Betriebs entwickelt haben.
Durch den schwindelerregenden Anstieg der Energiepreise und dem damit
zusammenhängenden Zusammenbruch des Absatzes ist diese aus dem Lot geraten. Zeiten des Rückgangs der Produktion werden nur
durch den vollständigen Stillstand der Produktionskette unterbrochen. Anfang Oktober 1998 warteten die Arbeiter auf ihren Lohn seit
August 1996. Ständig finden Entlassungen statt, und die Anzahl der Beschäftigten ist von 50.000 auf weniger als die Hälfte
zurückgegangen. Die Arbeiter fordern die Zahlung der rückständigen Löhne und eine Politik gegen die Steigerung der
Mieten.
Vor allem fordern sie die Einführung der Arbeiterkontrolle, d.h.
"die Kontrolle über die Produktion und die gesamte Buchführung". Die Arbeiterkontrolle wird tatsächlich als das
einzige Mittel betrachtet, die Fabrik wieder flott zu machen, weil die Arbeiter die einzigen sind, die ein Interesse an der Wiederaufnahme der
Produktion und nicht an der Ausschlachtung der Betriebe haben, sagt Wera Arfanes, Mitglied des Arbeiterrats. Weder der Staat
(Nationalisierung) noch die neuen Eigentümer (Privatisierung) gewährleisten das.
Um eine über den lokalen Rahmen hinausgehende
Solidaritätsbewegung loszutreten, hatten sich Vertreter des Arbeiterrats im Sommer 1998 zu den Streikposten der Bergleute nach Moskau
begeben. Doch die Initiative scheiterte an der zögerlichen Haltung der gewerkschaftlichen Führung der Bergleute (der
unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft NPG).
Angesichts fehlender ausreichender Unterstützung seitens anderer
Berufe und Branchen haben die Arbeiter von Rostselmach ihren Kampf zermürbt aufgegeben, zumal die Betriebsleitung die Situation
wieder fest im Griff hat, die Löhne tropfenweise zahlt und die Arbeiter mit der ständigen Ankündigung ausländischer
Investitionen, die noch nie eingetroffen sind, in der Hoffnung läßt, die Produktion werde doch wieder aufgenommen. Heute
funktioniert der Betrieb fast gar nicht mehr, außer einigen Werkstätten, wo den Arbeitern 400 Rubel im Monat gezahlt werden.
Noch unglaublicher vor dem Hintergrund des siegreichen Kapitalismus, wie ihn Russland gegenwärtig durchmacht, ist die Aktion der
Arbeiter von Jasnogorsk. Sie haben die alten Direktoren wegen Inkompetenz vor die Tür gesetzt, weil sie nichts unternahmen, den Betrieb
wieder anzukurbeln, sich stattdessen alles aneigneten, was einen Profit versprach und schließlich die Fabrik stückweise verkauften.
Die Arbeiter waren es leid, keine Löhne ausgezahlt zu bekommen.
Am 28.September 1998 gründeten sie sie ein Streikkomitee und wählten eine neue Betriebsleitung aus Vertretern der Arbeiter, die
diesen verantwortlich sind.
Die alte Betriebsleitung und die lokalen Behörden waren derart
fassungslos gegenüber diesem Coup, dass sie fast zwei Monate lang inaktiv blieben; während dieser Zeit wurde der Betrieb wieder
aufgenommen.
Doch dann begann ein heftiger Kampf um die Kontrolle des Betriebs. Die
von den Arbeitern gewählten Betriebsleiter wurden verhaftet und auf das Kollektiv heftiger Druck ausgeübt.
Schließlich wurden die Arbeiter gezwungen, sich dem Diktat der
formellen Eigentümer, der Justiz und der lokalen Behörden zu beugen. Sie gaben die direkte Kontrolle über die Fabrik auf,
behielten aber ihre Kampforganisationen - Arbeiterräte und eine kämpferische Gewerkschaft, deren Leitung neu gewählt
wurde.
Vor allem haben sie offiziell die Bildung einer Kommission erreicht, die
die Kontrolle über den Verkauf ausübt, wodurch sie eine Kontrolle über den Kapitalfluss erlangt haben.
Im Ergebnis wurden die ausstehenden Löhne nach und nach bezahlt
und die Produktion langsam wieder angekurbelt. Das Kollektiv wurde durch den Kampf zusammengeschweißt, und die Arbeiter haben
einige ihrer Illusionen hinsichtlich der Ausgewogenheit des Rechtssystems und der Unterstützung der Zentralmacht verloren. Die
Erfahrung ist in ihrem Gedächtnis und ihrem Bewusstsein fest verankert.
Arbeiter dieser Fabrik, die mit ihrer Geduld am Ende waren, haben im September/Oktober 1998 einen Streik angefangen, um die
Betriebsleitung zu zwingen, die seit sechs Monaten ausstehenden Löhne zu zahlen - der Betrieb arbeitet rentabel, die Exporte ins Ausland
machen mehr als 30% der Produktion aus.
Ein Streikkomitee und eine kämpferische Gewerkschaft wurden
gegründet, die sich gegen die von der alten Gewerkschaft praktizierte Zusammenarbeit mit der Betriebsleitung wendet.
Die Arbeiter bekamen, was sie wollten, indem sie die Produktion
vollständig blockierten und mit destabilisierenden Versammlungen in den Straßen Moskaus drohten. Die Betriebsleitung und der
Moskauer Bürgermeister unternahmen daraufhin einige Anstrengungen, den Arbeiter die ausstehenden Löhne zu zahlen.
Heute kontrolliert das Streikkomitee die Aktivitäten der
Betriebsleitung aus der Nähe.
Das Zellulosekombinat von Wyborg ist eines der bedeutendsten Russlands (es zählt heute 2000 Beschäftigte). Es befindet sich
in einem Arbeitervorort von St.Petersburg und ist für die gesamte Stadt lebenswichtig. Der Privatisierungsprozess hat bereits 1993
eingesetzt und war von zahlreichen Gesetzesverstößen begleitet.
1995-1996 wurde das Unternehmen von den Leitern bewusst in den
Bankrott geführt. Nach betrügerischen Manövern wurde es 1997 von einer britischen Firma (Nimonor) übernommen,
die als Strohmann eines bekannten St.Petersburger Geschäftsmanns, eines gewissen Sabadach, genannt der
"Wodkakönig", fungierte. Das Kombinat wurde dabei weit unter Wert verkauft, das war auch der Grund, weswegen der
Konkurs erklärt worden war. Die Beschäftigten waren gegen den Ausverkauf, ihrer Meinung nach bedeutete er das Ende des
Unternehmens. Die Gerichte in der Region St.Petersburg hatten den Verkauf für illegal erklärt, doch das Urteil ist niemals in Kraft
getreten.
Nachdem die Beschäftigten zahlreiche Streiks organisiert und ein
Streikkomitee gegründet hatten, übernahmen sie die Kontrolle der Fabrik, wählten einen neuen Betriebsleiter und
entließen den alten, der keine Löhne gezahlt und den Betrieb bewusst in den Bankrott geführt hatte - dabei hatte er sich alle
verfügbaren Geldvermögen angeeignet.
Seit zwei Jahren funktioniert der "Volksbetrieb" (alle Aktien
gehören dem Arbeiterkollektiv, ohne individuelles Stimmrecht) wieder dank der Anstrengungen der Beschäftigten und der
Solidarität anderer Unternehmen der Region. Die Aufträge nehmen zu, die Löhne werden seitdem rechtzeitig gezahlt, sogar
Steuern. Um ihren Betrieb zu erhalten, stellen die Arbeiter regelmäßig Wachposten in der Fabrik auf.
Einen ersten Versuch, gewaltsam einzuschreiten, unternahmen die formellen
Eigentümer bereits am 9.Juli 1999. Der Staatsanwalt und eine private Miliz begleiteten damals drei Personen, die sich als Vertreter der
britischen Firma Alcem IK Ltd. ausgaben, an die Nimonor ihre Aktien für eine lächerliche Summe abgetreten hatte. Von
wachhabenden Arbeitern gewarnt, konnten die Arbeiter die Angreifer zurückschlagen, wobei ihnen die städtische Polizei half.
Ein zweiter Versuch, sich gewaltsam Eintritt in die Fabrik zu verschaffen,
geschah am 14.Oktober. Die formellen Eigentümer riefen diesmal Spezialeinheiten zu Hilfe, die in der Nacht in die Fabrik eindrangen.
Die Wächter schlugen Alarm und leisteten, so gut sie konnten, Widerstand gegen die bewaffneten Milizen. Zwei Personen wurden von
Kugeln schwer verletzt. Acht Arbeiter wurden von der Miliz in einem Teil der Fabrik als Geiseln festgehalten. Doch das Gebäude wurde
schnell von 500 Arbeitern umzingelt, die die Angreifer zwangen, sich zurückzuziehen.
Die Justiz und die Regionalverwaltung ließen diesen Angriff
geschehen. Die Medien lancierten eine Hetzkampagne gegen die Arbeiter, indem sie sie beschuldigten, sich mit Gewalt das Eigentum anderer
anzueignen und keine Steuern zu zahlen. Die Zeitung Iswestija rief sogar dazu auf, Panzer gegen die Arbeiter einzusetzen, die man wie die
Tschetschenen bombardieren müsse. Wenn die Ordnung des Kapitalismus bedroht scheint, und sei es nur durch eine Handvoll relativ
isolierter und harmloser Arbeiter, fängt die Meute an zu bellen…
Wyborg ist nicht der einzige Fall, wo ein Betrieb, dessen Konkurs deklariert wurde, von den Beschäftigten kontrolliert wird, die ihn
wieder flott gemacht haben und sich dagegen wehren, dass das Unternehmen für ein Butterbrot verscherbelt wird. Wer seine
Solidarität mit den Arbeitern zum Ausdruck bringen will, kann das tun. Protest aus dem Westen hat enorme Wirkung. Denjenigen, die eine
politische Vereinnahmung fürchten, sei gesagt, dass die kämpfenden Arbeiter von keiner einzigen Partei, keiner einzigen
Gewerkschaft unterstützt werden. Immerhin bringen die KPRF (Kommunistische Partei der Russischen Föderation) von Sjuganow
als auch die RKRP (Kommunistische Arbeiterpartei Russlands) von Tjulkin ebenso wie kleine Parteien der extremen Linken, der
Gewerkschaftsverband FNPR wie auch die neuen Gewerkschaften ihre Sympathie mindestens verbal zum Ausdruck. Doch die Arbeiter
bekommen eher zu wenig Unterstützung als zu viel.
Catherine Samary
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