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Der/die Menschenrechtsbeauftragte wird für je drei Jahre vom Parlament gewählt. 1992 amtierte
erstmals ein Menschenrechtsbeauftragter, der die Behörde aufbaute. Bis 1995 hatte er noch nicht einmal einen eigenen Haushalt und war
somit finanziell völlig von der Regierung abhängig. Der erste Menschenrechtsbeauftragte entwickelte auch wenig politische
Initiative, um daran etwas zu ändern. Immerhin hinterließ er eine arbeitsfähige Behörde.
Als Victoria de Aviles 1995 das Amt der Menschenrechtsbeauftragten
übernahm, machte sie sich überhaupt erst an die Umsetzung des bereits 1992 erlassenen Gesetzes über die Procuradoria
für die Menschenrechte. Sie setzte durch, dass die Behörde einen eigenen Haushalt erhielt. In ihrer Amtszeit stritt sie für drei
Ziele: die strikte Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte, Kampf gegen die Straflosigkeit für
Menschenrechtsverletzungen und allgemein eine Stärkung der Zivilgesellschaft.
Unabhängigkeit von der Regierung
Die Behörde des Menschenrechtsbeauftragten ist zwar eine staatliche
Behörde, trotzdem versuchte de Aviles eine größtmögliche Unabhängigkeit von der Regierung zu erreichen und
so weit wie möglich autonom zu agieren. Ausserdem suchte sie in ihrer Amtszeit den Kontakt mit NGOs und sozialen Bewegungen, um
sich eine Basis in der Gesellschaft zu verschaffen.
Durch das Gesetz über die Procuradoria für Menschenrechte
war festgelegt worden, dass sie kriminalistische Ermittlungen über Menschenrechtsverletzungen anstellen konnte, aber keine
Sanktionsmöglichkeiten hatte. Sie konnte ihre Ermittlungsergebnisse lediglich der Staatsanwaltschaft übermitteln. In zwei
Fällen konnte die Procuradoria nachweisen, dass Angehörige der Polizei 1994 Morde begangen hatten. Die beiden Mordopfer
waren Kommandanten der FMLN. Einer von ihnen wurde von einer Todesschwadron ermordet. Der mutmaßliche Täter erhielt eine
Warnung vom Chef der neuen Kriminalpolizei und konnte sich rechtzeitig absetzen. Das zweite Opfer war von einem Polizisten ermordet
worden. In beiden Fällen konnten nur die Täter, nicht aber ihre Hintermänner ermittelt werden.
Sie sind vor allem auch auch Beispiele dafür, dass die
Gründung der Zivilen Nationalpolizei 1992 kein echter Neuanfang war. Die zur Zeit aktivste Todesschwadron ist Sombra Negra
(Schwarzer Schatten). Sie versteht sich als "antikriminelle Einheit" und macht Jagd auf Kleinkriminelle und Straßenkinder.
Die Strukturen der Todesschwadronen wurden von der Regierung nie aufgedeckt, die entsprechenden Empfehlungen der Procuradoria für
Menschenrechte in der Amtszeit von Victoria de Aviles wurden nicht umgesetzt. Die heutigen Todesschwadronen haben nur ihre Ziele
gewechselt. Sie ermorden keine politischen Oppositionellen mehr, sondern sozial Ausgegrenzte. Ihr Treiben ist aber so mörderisch und
brutal wie eh und je, und es könnte sich jederzeit auch wieder gegen die Opposition richten.
Soziale Konflikte vermitteln
Ein neues Aufgabenfeld erschloss sich die Procuradoria mit ihrer
Vermittlungstätigkeit bei sozialen Konflikten. Dabei begab sie sich auf das für Menschenrechtsorganisationen ungewöhnliche
Feld der sozialen Menschenrechte. Dabei vermittelte sie 1995 bei Konflikten in den Maquiladoras (Schwitzbuden), kleinen Betrieben
überwiegend in der Textilbranche, in denen mehrheitlich Frauen unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten. Im gleichen Jahr
besetzten streikende Angestellte des Bau- und Gesundheitsministeriums während des Papstbesuchs die Kathedrale von San Salvador.
Auch hier vermittelte die Procuradoria.
Bei vielen anderen Konflikten setzte sich die Procuradoria für die
Interessen der Benachteiligten ein. So demonstrierten Kriegsopfer vor dem Gebäude eines für sie eingerichteten Fonds, um endlich
Entschädigungszahlungen zu erhalten. Die Bereitschaftspolizei, die französisch ausgebildet und ausgerüstet ist, schoss in die
Menge und tötete einen Demonstranten.
Um die Kontakte zu unabhängigen Organisationen auszubauen,
eröffnete die Procuradoria außer ihrem Zentralbüro in San Salvador in allen 14 Departements je ein Büro. Die
unabhängigen Menschenrechtsorganisationen gründeten die Defensorias Municipales, die in 35 der 262 Kommunalverwaltungen
existieren.
Konservativer Niedergang
Ein weiteres Aufgabenfeld war die Menschenrechtserziehung. So
entstanden 90 Menschenrechtsalphabetisierungsgruppen, durch die die SalvadorianerInnen über ihre Rechte aufgeklärt werden
sollen.
Victoria de Aviles vertrat immer ein integrales
Menschenrechtsverständnis, d.h. sie lehnt eine Trennung von individuellen und politischen Menschenrechten einerseits und sozialen und
kulturellen Rechten andererseits ab. Daraus resultierten während ihrer Amtszeit ablehnende Stellungnahmen zur Privatisierung, weil
diese die soziale Lage breiter Bevölkerungsteile verschlechtern würde.
Insgesamt erwarb sich Victoria de Aviles und die von ihr geleitete
Behörde in der Bevölkerung grosses Ansehen. In Umfragen rangierte sie vor der katholischen Kirche, was in El Salvador einiges
heißen will.
Das steigende Ansehen war mit steigenden Angriffen verbunden. So
kürzte die Regierung die Mittel für die Procuradoria, in der Presse gab es eine Hetzkampagne und de Aviles und ihre
Angehörigen wurden bedroht. Die Regierung versuchte die Procuradoria kaltzustellen, da sie sich als mehr als eine Alibieinrichtung
erwiesen hatte. Die Regierungspartei ARENA verhinderte eine Wiederwahl de Aviles. Stattdessen wurde der Christdemokrat Eduardo Peńate
1998 zum neuen Menschenrechtsbeauftragten gewählt. Unter ihm nimmt die Bedeutung der Procuradoria wieder ab, da er nicht in aktuelle
politische Auseinandersetzungen eingreift.
In einer Zeit, wo Menschenrechte als Begründung für
imperialistische Angriffskriege herhalten müssen, bietet die Politik von Victoria de Aviles ein Beispiel für emanzipatorische
Menschenrechtspolitik, die auch für europäische Linke vorbildlich sein kann.
Die wachsende Armut in El Salvador setzt die sozialen Menschenrechte auf
die Tagesordnung, erklärt de Aviles. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, es entstehen kaum neue Arbeitsplätze ausser den
menschenunwürdigen in den Maquiladoras. Die Privatisierung zerstört weitere Arbeitsplätze. Das Massenelend ist ein Grund
für die wachsende Kriminalität.
Auf die Frage nach der Entwicklung der FMLN seit 1992 und ob man den
Übergang von einer bewaffneten Befreiungsbewegung zu einer politischen Partei als erfolgreich bezeichnen kann, antwortete de Aviles
zunächst damit, dass es eine grosse Errungenschaft ist, dass dieser Übergang überhaupt möglich war. Aber die FMLN
kämpft immer noch um Anerkennung als Partei. Trotz aller Desillusionierung über die Möglichkeiten politischer Aktion ist
die FMLN immer noch Hoffnungsträger für einen großen Teil der Bevölkerung.
In der FMLN gibt es unterschiedliche Tendenzen. Die Tendenz der
"Erneuerer" propagiert eine mittelamerikanische Variante von Sozialdemokratie und sucht einen "dritten Weg" zwischen
Neoliberalismus und Sozialismus, eine Art "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz". Die "Orthodoxen", die sich selbst
als revolutionäre SozialistInnen bezeichnen und zu denen auch Victoria de Aviles gehört, haben eine antikapitalistische
Grundhaltung. Sie sind stärker basisorientiert als die "Erneuerer" und nehmen Begriffe wie soziale Gerechtigkeit ernster. In
der Praxis setzen aber auch sie sich bspw. für Auslandsinvestitionen ein, wenn sie die Lebensverhältnisse der Bevölkerung
verbessern. Zur Zeit könnten auch die "Orthodoxen" keine konkrete Alternative zum Kapitalismus anbieten, da auch sie sich
von Konzepten wie der "Diktatur des Proletariats" verabschiedet haben, erklärt de Aviles. Neben der FMLN gebe es keine
nennenswerten linken Gruppierungen.
Insgesamt sieht Victoria de Aviles wenig Spielraum für das
Entstehen einer breiten emanzipatorischen Bewegung in El Salvador. Die Menschen sind über die Möglichkeiten politischer Aktion
desillusioniert und suchen ihr Heil in individuellen Lösungen, bei denen die Auswanderung nach Nordamerika ganz oben steht. Einziger
Lichtblick ist die Tatsache, dass es in breiten Kreisen der Bevölkerung ein Bewusstsein über die Notwendigkeit der Einhaltung der
Menschenrechte gibt. Diese schützen vor schrankenloser Willkür und bieten Spielräume für emanzipatorische Politik.
Andreas Bodden
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