Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 09.12.1999, Seite 14

Schlaflos in Seattle

Die dritte Ministerialkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle ist erfolglos beendet worden: keine Beschlüsse, keine Kompromisse, keine genauen Themenvorgaben für die Folgekonferenzen und dazu ein Imageverlust, weil die hohen Herren zu ihrer Zusammenkunft erst durch das Schlachtgetümmel von massiven Gegendemonstrationen und Polizeinotstandsmaßnahmen stolpern mussten. Nicht schlecht, die erste Adventswoche, oder doch?
Die Zeitschrift Jungle World hebt in ihrer Ausgabe zum Konferenzbeginn in Seattle gleich zwei warnende Zeigefinger: Zunächst analysiert Alain Kessi die sog. "Retorsionsanfälligkeit" des Protests gegen die WTO. Insbesondere die "trotzkistischen altlinken TheoretikerInnen", die "den Sozialstaat verteidigen" wären anfällig, sich ihren Protest von rechten Nationalisten wegschnappen zu lassen. Rechts und Links wären in ihrer Kritik an der WTO vereinigt und nur wenigen gelänge es, sich aus dieser feindlichen Übernahme zu befreien. Danach verteidigt Daniel Becker, Stammautor zu globalen Wirtschaftsfragen, die Institution WTO als solche. Eine WTO wäre besser als keine. Anderfalls kontrollierten die stärksten Mitspieler auf dem Weltmarkt alles, würden die armen Sektoren noch viel mehr leiden.
"Eine Welthandelspolitik zu verhindern, in der allein die großen Wirtschaftsmächte die Regeln bestimmen, ist eine der Aufgaben der WTO." Und weiter: "Die Definitionsmacht für eine Weltordnungspolitik, wie sie vielen (rechten und linken) Globalisierungsgegnern vorschwebt, würde aus dem Weißen Haus, dem Bundeskanzleramt oder der DGB-Zentrale hinein in den Konferenzsaal einer multilateralen Organisation verlagert, in der mehr als zwei Drittel aller Regierungen vertreten sind … Ein Kompromiss bei der WTO über die neuen ‚neuen Themen‘ in der Welthandelspolitik wäre besser als die wahrscheinliche Alternative: das Scheitern." Und schließlich: "Ein Kompromiss der WTO bei den Umwelt- und Sozialstandards könnte beides verhindern: Den Marktradikalismus pur und auch eine Weltordnungspolitik nach dem Gutdünken der größten Handelsmächte."
Nun wissen wir aus den Lehrbüchern der Retorsionsforschung, dass zwei warnende Zeigefinger einer zuviel ist. Hier soll nicht mehr aufgeklärt, gemahnt, und dennoch ermutigt, sondern der Widerstand gegen die WTO soll zumindest verbal gestoppt und als komplett fehlorientiert entlarvt werden: schön blöd, wer nach Seattle fährt.
Ein Blick in die großen, bürgerlichen Medien genügt, um festzustellen, wie schnell solch eine Schrittfolge aus dem Jungle der Rebellion direkt in den Mainstream führt, jeder Humboldt trifft mal auf seinen Orinoco: Von FAZ und Handelsblatt bis zu den liberalen Blättern aus München und Frankfurt gab es keine warnenden Finger, aber väterliches Kopfstreicheln. Die lieben Protestler hätten ja so recht mit ihren Anliegen, aber die WTO wäre der falsche Adressat, sie wäre nützlich und würde das soziale Anliegen doch gerade in ihre Tagesordnung aufnehmen.
Im zweifelhaften Fällen solle man sich für das Richtige entscheiden, sagte Karl Kraus. Die Vorstellung, die menschliche Zukunft auf der Erde über Marktbeziehungen und Profitwirtschaft regeln zu wollen ist so falsch, dass selbst die "antinationale Linke" darin nichts Richtiges entdecken dürfte. Ob mit oder ohne Sozialstandards wird eine solche Ordnung immer von den Reichsten und Mächtigsten dirigiert und die gesamte Ordnung fügt sich dem Gebot der ökonomischen Zurichtung durch den Weltmarkt. Proteste und Berhinderungsaktionen gegen die Paläste und die Zeremonien, mit denen diese Ordnung geordnet werden soll, sind also nicht so sehr wegen ihrer Innenwirkung auf diese Zeremonien so richtig und wichtig, sondern vor allem, weil nur diese radikale Praxis im Widerstand, auf der Straße und wo immer sonst noch eine andere Zukunft aufzeigt. Und nebenbei: die Auswirkungen nach innen, zum Beispiel "Sozialstandards" auf Grund von Massenprotesten, sind in der Regel immer noch günstiger ausgefallen, als die in Ruhe gefundenen Verhandlungsergebnisse von "134 Regierungen".
Wer sich nicht in Gefahr begibt, wird darin umkommen. Dass nationalistische Kräfte sich dem Protest gegen die WTO anschließen, ist so wenig zu verhindern wie der verbale Bezug der Nazis auf den Sozialismus. Ihr Einfluss ist nur durch eine mächtigere Präsenz der Linken zu ersticken. Auch der große Kritiker der "modernen Zeiten", Charly Chaplin, beschwerte sich, dass Hitler "ihm sein Bärtchen gestohlen hätte", er brachte trotzdem den großen Diktator zum Tanzen.
Thies Gleiss
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