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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 09.12.1999, Seite 16

Das Ende der Zeiten und der Anfang der Geschichte

Katastrophen sind "in". Nicht genug, dass sie sich im realen Leben häufen, weil mit der Krisenhaftigkeit und dem Zerfall unserer Gesellschaften so komplizierte Mechanismen wie die Hochtechnologie oder das ökologische Gleichgewicht aus dem Ruder laufen. Es gibt auch eine Lust an Untergangsstimmung. Die Medien spielen damit, wie sie mit Gewalt, Horror und Verbrechen spielen, weil moderne Menschen in ihrem entfremdeten Dasein dazu neigen, die Dinge auf den Kopf zu stellen und sich vom Grauen faszinieren zu lassen.

Festgemacht an der magischen Zahl mit den drei Nullen, gilt die Erwartung des "Endes der Zeiten" als eine Grundkonstante der christlich-abendländischen Geschichte. Beliebt ist der Verweis auf die "große Furcht des Jahres 1000". Doch die ist wohl eher ein Mythos. "Der Schrecken des Jahres 1000 hat im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte in universitären Kreisen als politischer Punchingball gedient", meint der US-amerikanische Naturwissenschaftler Stephen J. Gould dazu.
"Die romantischen Historiker des 19.Jahrhunderts haben diese Idee schrecklich gern gemocht; die rationalistischen Historiker haben sie bestritten. Es gab endlose Streitigkeiten. Schließlich hat mich mein Kollege, der Historiker Richard Landes, davon überzeugt, daß es in Frankreich und im späteren Deutschland zur Jahrtausendwende eine gewisse Unruhestimmung gegeben hat. Aber diese Gefühlsausbrüche scheinen nicht besonders stark gewesen zu sein, da weder Papst Silvester II., der von 999 bis 1003 herrschte, noch die königlichen Chroniken irgend etwas darüber sagen. Anscheinend gab es keine allgemeine Panik, sondern nur eine gewisse Unruhe." Andererseits gab es immer wieder Perioden in unserer Zeitrechnung, die für apokalyptische Visionen besonders empfänglich waren, z.B. die Jahrhunderte des Niedergangs des Römischen Reiches, oder die Zeit des ausgehenden Mittelalters und der Renaissance: Die Prophetien in Europa erlebten einen Höhepunkt in der Epoche der Großen Pest und der Kreuzzüge.
Die früheren apokalyptischen Visionen unterscheiden sich jedoch von Weltuntergangsszenarien unserer Zeit. Sie waren verbunden mit dem festen Glauben an die Erlösung. Namentlich bei den untersten Schichten des Volkes, die den gesellschaftlichen Niedergang am drückendsten empfanden und die nicht die Mittel besaßen, ihre Ängste im Vergnügungsrausch zu ersticken, griffen zur Vorstellung, dass in nächster Zeit ein Erlöser vom Himmel kommen werde, der ein himmlisches Reich auf Erden errichte. Von Palästina aus breitete sich zur Zeitenwende über das Römische Reich Heilserwartung aus, und Jesus war weder der erste noch der einzige, der als ihre Verkörperung auftrat.
"Die erste Schrift, in der derartige Erwartungen ausgesprochen wurden, bildet die sogenannten Offenbarung des Johannes, die Apokalyse, die wahrscheinlich bald nach Neros Tod geschrieben wurde, und die verkündet, es werde baldigst ein furchtbarer Kampf sich entspinnen zwischen dem wiederkehrenden Nero, dem Antichrist, und dem wiederkehrenden Christus, ein Kampf, den die gesamte Natur mitkämpft. Christus werde siegreich aus diesem Kampf hervorgehen und ein tausendjähriges Reich begründen, in welchem die Frommen mit Christus regieren werden, ohne dass der Tod eine Macht über sie hat … Nach Ablauf dieses Reiches wird ein neuer Himmel und eine neue Erde erstehen, und auf dieser Erde ein neues Jerusalem" (Karl Kautsky).
Auf den Weltuntergang sollte die Erlösung folgen - dieser Wunderglaube prägte die urchristlichen Gemeinden wie auch zahllose Sekten, Ketzer- und urkommunistische Bewegungen bis hin zu den Wiedertäufern, den Adventisten und den Zeugen Jehovas. Er war eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Verfall, auf den Vergnügungsrausch, in dem die Oberschichten ihren Katzenjammer zu ertränken suchten, und auf verbreitete Perspektivlosigkeit.
In Kontrast dazu gab es auch Jahrhundertwechsel, die den Verlauf der Geschichte nicht weniger deterministisch interpretierten, aber im entgegengesetzten Sinn. Als im Jahr 1901 der Wechsel zum 20.Jahrhundert gefeiert wurde, war man auf dem Gipfel des Optimismus. Die öffentlichen Feierlichkeiten in Europa waren geprägt von der berstenden Selbstgewissheit des die Welt erobernden Bürgertums, die Geschichte folge dem Naturgesetz: Private Vices, Public Benefits (private Laster, öffentlicher Nutzen, wie die Unterzeile zu Mandevilles "Bienenfabel" lautet).
Das Proletariat hatte kein geringeres Selbstvertrauen; es gründete sich allerdings auf ein anderes Gesetz, das für nicht weniger "natürlich" gehalten wurde: Der dialektische Verlauf der Geschichte bringe es mit sich, dass auf die Epoche der umfassendsten Ausbeutung die breiteste Organisation und Selbstbefreiung der Unterdrückten, mithin die Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt, Sozialismus und Kommunismus, folgten.
Nach zwei Weltkriegen, nach den Erfahrungen von Faschismus und Stalinismus und der greifbaren Nähe, in die die Selbstzerstörung großer Teile der Menschheit gerückt ist, ist für solche Siegesgewissheit kein Platz mehr. Auch mit Francis Fukuyamas "Ende der Geschichte" verbindet sich nicht die Verheißung eines neuen Goldenen Zeitalters, sondern schlichte Alternativlosigkeit, aus der allein sich die bestehenden Verhältnisse noch rechtfertigen: "There is no alternative” - Schröders Lieblingssatz, den er von Margaret Thatcher gelernt hat.
Am Ende des 20.Jahrhunderts glaubt niemand mehr an einen Weltuntergang, allerdings auch nicht an die Erlösung. Stattdessen herrscht Ratlosigkeit, Verunsicherung und auch Angst um die materielle Zukunft. Der Umgang mit realen Katastrophen wie den Erdbeben in der Türkei schwankt zwischen Leichtsinn und Panik. Wissenschaftlich wie technisch verfügen große Teile der Menschheit heute über die Mittel, sich vor den Naturgewalten zu schützen. Es liegt allein an den gravierenden Mängeln ihrer gesellschaftlichen Organisation, dass sie nicht zum Einsatz kommen.
Das deterministische Weltbild scheint - im positiven wie im negativen Sinn - erschüttert. Die moderne Naturwissenschaft bestätigt die Sichtweise, dass Natur- wie Menschengeschichte, so unterschiedlichen Maßstäben und "Gesetzen" sie auch gehorchen, grundsätzlich ein "offener Prozess" sind. Gould z.B. unterscheidet zwischen der physikalischen Natur, die einer strengen, vorhersagbaren, Gesetzmäßigkeit folgt, und der belebten Natur, die dem Muster der Evolution folgt. Das Leben als chemisch-physikalischer Prozess charakterisiert er als "das logische Resultat der Art und Weise, in der die organische Chemie und die Physik sich selbst organisierender Systeme funktionieren". Ein logisches, also nicht unwahrscheinliches Resultat, von dem wir dennoch nur ein einziges Beispiel, nur eine einzige Erfahrung haben. "Das Auftreten von Leben war fast unvermeidlich, weil wir uns im Bereich der Chemie bewegen, aber die Evolutionstheorie ist ein ganz anderes Thema."
Die Geschichte des Lebens ist nicht wiederholbar und nicht reproduzierbar. Hier entscheidet allein der Zufall (im Sinne eines unvorhersehbaren Ereignisses) über die Art und Weise, wie sich die Lebensformen auf diesem Planeten entfaltet haben, die Umstände. Von den 3,5 Milliarden Jahren, während derer es Leben auf der Erde gibt, gab es 2 Milliarden Jahre hindurch nur einzellige Organismen, eine weitere Milliarde Jahre mehrzellige Algen. Erst vor über 500 Millionen Jahren tauchten die ersten vielzelligen Tiere (Metazoen) auf, innerhalb von nur 10 Millionen Jahren haben sich dann explosionsartig alle großen "Tierstämme" entwickelt, die wir heute kennen. "Danach haben wir 500 Millionen Jahre Tiergeschichte, die durch Massenvernichtungen rhythmisiert wird und die insgesamt nicht in eine bestimmte Richtung deutet oder ein signifikatives Schema aufweist."
Die Menschheitsgeschichte endlich ist am wenigsten vorhersehbar, nicht weil sie ohne innere Logik wäre, sondern weil sie nicht von Naturgesetzen bestimmt wird. Das bedeutet nicht, dass Geschichte nicht rational abliefe und Folgen menschlichen Handelns nicht vorhersehbar wären. "Wir sind frei, uns in Hunderttausende mögliche Richtungen zu bewegen. Und unsere Entscheidungen sind voll und ganz interpretierbar, aber immer nur im nachhinein."
Wir können erklären, warum Menschen sich so und nicht anders verhalten haben, wir können aber nicht vorhersagen, wie sich der Einzelne im jeweiligen Moment entscheiden wird. "Wir sind nicht besonders gut geeignet, Vorhersagen zu machen. Andererseits verstehen wir es sehr gut, Katastrophen zur Unzeit zu verkünden." In dieser Unvorhersagbarkeit liegt die menschliche Freiheit, sich für Bewahrung oder Zerstörung, für verschiedene Arten von technologischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung, für Fortschritt oder Niedergang zu entscheiden.
Das alte Diktum von Marx: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen", wird durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft eindrucksvoll bestätigt. Als Ausgangspunkt von Gesellschaftswissenschaft, die neben den tatsächlich getroffenen Entscheidungen auch die jeweils angebotenen und verworfenen Alternativen diskutieren müsste, trifft man es kaum an. Der subjektive Faktor in seiner Bedingung durch und Interaktion mit den objektiven, ökonomischen, technischen, gesellschaftlichen Umständen, spielt nur selten eine Rolle - es sei denn als frei schwebendes einzelnes Elektron. Im bürgerlichen Weltbild ist der Einzelne ebenso sehr nur Vollstrecker und Interpret der "unsichtbaren Gesetze des Marktes" wie er im christlichen Weltbild nur Vollstrecker des göttlichen Willens ist.
Die wissenschaftliche Erkenntnis von der Offenheit der Geschichte stimmt in einem viel grundlegenderen Sinn optimistisch als jede Heilserwartung und jeder "naturgesetzliche" Fortschritt. Sie erklärt menschliche Entwicklung nämlich aus menschlichem Handeln - nicht aus den blinden Gesetzen des Marktes, nicht aus Gottes ewigem Rat, nicht aus der Einsicht der Partei in die gesetzmäßige Entwicklung. Was Menschen hervorbringen, kann von Menschen verändert werden. Nichts ist irreversibel, es gibt kein "5 nach 12", wie philosophierende Unternehmer gern verkünden. Selbst krasseste Fehlentscheidungen können korrigiert werden, es ist alles nur eine Frage des Preises, den wir dafür zahlen müssen. Unter einer Voraussetzung: dass es ein bewusstes, planendes, gesellschaftliches Handeln der breiten Mehrheit gibt. Dies zu organisieren ist die erste Vorbedingung für emanzipatorische Politik, die erste Stufe der Freiheit - Marx nannte das den Eintritt des Menschen in die Epoche der Geschichte.
Angela Klein
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