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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2002, Seite 10

Gesundheitspolitik

Solidaritätsprinzip auf der Kippe

Geht es um den Kampf gegen die neoliberale Ökonomisierung und Globalisierung in allen Bereichen der Gesellschaft, muss auch die Gesundheitspolitik öffentlich gemacht und zum Kampffeld von links werden. Das ist schwierig, denn kaum ein Politikfeld erscheint derart undurchsichtig und von widerstreitenden Interessen durchzogen wie dieses.

Gesundheit beginnt bekanntlich bereits bei ihrer Grundlage, den Arbeits- und Lebensbedingungen, die weiterhin alles andere als sozial, frei oder auch nur annähernd gleich verteilt sind. Wenn Gesundheit zu den Menschenrechten gehört, gehören auch die gesunden Arbeits- und Lebensbedingungen dazu. Denn Gesundheit umfasst mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Die Hilfe bei Krankheit für alle ist ein Menschenrecht, das noch nicht erkämpft ist.
Gerade in jenen Staaten, die zu den Speerspitzen des Neoliberalismus zählen, wächst die ökonomische Gier nach weiterer Inwertsetzung. Allerdings wurde das Gesundheitssystem von den Zielsetzungen einer am Standortwettbewerb ausgerichteten Wirtschafts- und Sozialpolitik bisher hier noch nicht voll erfasst. Dies ändert sich im Zuge des Umbaus des welfare state zum workfare state — obwohl bzw. gerade weil die Gesundheit und ihre Rechte und Systeme einen der Kernbestandteile des europäischen Sozialmodells ausmachen.
Die Zeichen stehen auf Sturm — nicht nur ob der in den Schubladen bereitliegenden Konzepte für einen Umbau bzw. einen Systemwechsel in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Denn die 230 Milliarden Euro in der GKV, ein globaler Markt für Medikamente sowie die Verheißungen der Gen- und Biotechnologien stimulieren die Profitgier des internationalen Kapitals. Unter dem Diktum der Ideologie und Praxis des Neoliberalismus werden auch im Gesundheitswesen radikale Schnitte verlangt, das Dogma der Neoliberalen heißt Lohnnebenkosten senken. Ihr Allheilmittel für eine bessere gesundheitliche Versorgung heißt Wettbewerb und Markt.
In der Kohl-Ära wurde das Solidarsystem in seinen Kernbereichen lange nicht angetastet. Erst in den 90er Jahren richteten sich die gesundheitspolitischen Aktivitäten gravierender an neoliberalen Maximen aus. Damit wurde insbesondere das Solidaritätsprinzip in Frage gestellt. Man vertrat die Auffassung, dass die Rationalisierungsreserven in der GKV ausgeschöpft seien und mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden müssten. Statt der Lohnkosten sollten Patienten stärker belastet werden.
Durch finanzielle Anreize u.a. über die Einführung von Wahlleistungen, Kostenerstattung und Selbstbehalte sollte die Nachfrage der Versicherten nach dem Umfang des Versicherungsschutzes und der Patienten nach Leistungen der medizinischen Versorgung beeinflusst werden. So sollte der Wettbewerb zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern gefördert und die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens stimuliert werden.
Die damit einhergehende Aufspaltung des gesetzlichen Leistungskataloges und die Umverteilung finanzieller Belastungen wurden zu Recht als Privatisierung des Krankheitsrisikos und Aushöhlung des Solidaritätsprinzips kritisiert. Das Prinzip lief darauf hinaus, dass sich Gesundheit für das Individuum lohne und Krankheit bestraft werde. Zu erwarten war, dass finanzielle Barrieren abhängig vom Geldbeutel den Zugang zu Leistungen der medizinischen Versorgung erschweren und sich die Versorgung an den Präferenzen der zahlungskräftigen "Kundschaft" ausrichten würden.
Eine am Versorgungsbedarf ausgerichtete Ressourcenallokation und effiziente Mittelverwendung wären so nicht gefördert worden. Denn zu den Kernelementen einer an den Prinzipien der Solidarität und Bedarfsgerechtigkeit orientierten sozialen Krankenversicherung gehören ein einheitlicher, alles medizinisch Notwendige umfassender Leistungskatalog und der Zugang zu den erforderlichen Leistungen für alle.

Brüche und Kontinuitäten unter Rot-Grün

Dass Rot-Grün die Wahlen gewann, lag denn u.a. daran, dass viele Wähler von der liberalkonservativen Gesundheitspolitik enttäuscht waren. Die SPD schien für eine andere, solidarischere Form der Modernisierung zu stehen. Die rot-grüne Regierungskoalition hat unter den Ministerinnen Fischer und Schmidt mit mehreren Reformen versucht, einen Beitrag zur Annäherung an eine solidarische Gesundheitspolitik zu leisten.
Der reformpolitische Ansatz war allerdings ambivalent, da sowohl von deutlichem Bruch als auch von verblüffender Kontinuität geprägt: In den Anliegen, die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und damit die Lohnkosten zu stabilisieren, Wettbewerb im Gesundheitswesen zu fördern und über ökonomische Anreize zu steuern, knüpfte Rot- Grün an die liberalkonservative Politik an.
Dennoch wurde zugleich ein anderes Leitbild präsentiert: Die Versicherten sollten als Patienten, nicht als Kunden im Mittelpunkt von Reformen stehen. Finanzielle Belastungen für Patienten und ökonomische Anreize bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen wurden reduziert, das Bekenntnis zu einem einheitlichen Leistungskatalog sowie zum Solidaritätsprinzip bekräftigt.
Krankenkassen und Leistungserbringern sollten Anreize für die Optimierung der Versorgung (insbesondere chronisch Kranker) und die Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven gesetzt werden. Ziel war, die Position der Krankenkassen gegenüber Leistungserbringern zu stärken und den Wettbewerb auf der Anbieterseite zu fördern.
Eine Neuregelung der Ausgleichszahlungen zwischen den Krankenkassen sollte Anreize setzen, chronisch kranke Versicherte nicht als "schlechte Risiken" zu betrachten. Weitere Reformen sollten die Integration der medizinischen Versorgung vorantreiben. Die Kassen erhielten zudem mehr Möglichkeiten, sich in Prävention und Gesundheitsförderung zu engagieren.
Dieses Leitbild hat bis heute Bestand. Die politischen Widerstände wuchsen jedoch im Laufe der Legislaturperiode zu reformverzögernden Fallstricken für die treibenden Kräfte an. Insbesondere die Interessenverbände der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie standen dem neuen Kurs aus ökonomischen Interessen öffentlichkeitswirksam entgegen.
Die Einzelkonflikte verschärften sich, ohne dass jedoch eine gemeinsame Front gegen Rot-Grün entstand. Genau diese musste aus Sicht des Kanzleramts unbedingt vermieden werden. Parallel zum "Bündnis für Arbeit" im Zuge eines korporatistischen, vermeintliche neoliberale Sachzwänge akzeptierenden Politikstils der Schröder-Regierung schien ihr auch in der Gesundheitspolitik ein konsensorientierter Kurs angebracht.
So änderte sich unter Rot-Grün zwar das gesundheitspolitische Leitbild, und es wurden Weichenstellungen vorgenommen. Allerdings konnte mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 nur ein Torso des ursprünglichen Reformvorhabens realisiert werden. Man räumte weiteren Reformbedarf ein, der — nach wie vor — die Themen Finanzierung, Leistungskatalog, Steuerung der Versorgung und Reorganisation des Wettbewerbs umfasst.
Insbesondere das Scheitern der Einführung eines Globalbudgets führte zu harten Konflikten um das Arzneimittelbudget. Dennoch wurden mit der Aut-idem-Regelung, der Reform des Risikostrukturausgleichs und dem Gesetz zur Einführung eines diagnoseorientierten Fallpauschalensystems im Krankenhaus weitere wichtige, aber auch konfliktreiche Gesetzesvorhaben verfolgt.
Ein zentrales grundsätzliches gesundheitspolitisches Problem ist die Steuerung: Die Einführung des Wettbewerbs sollte die politisch-administrative Steuerung vereinfachen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Gesundheitspolitische Steuerung setzt ein Ausmaß an detaillierter Kontrolle und Regulierung voraus, das über die Existenz eines ordnungspolitischen Rahmens hinausgeht.
Marktwettbewerb ist jedoch auf Umsatzmaximierung, Wachstum und die Befriedigung individueller Bedürfnisse ausgerichtet. Einer am medizinischen Bedarf und an Gleichheit ausgerichteten Allokation knapper Ressourcen mit dem Ziel, den individuellen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung zu gewährleisten und mit dem gesellschaftlichen Nutzen zu verbinden, steht er entgegen. Was medizinisch notwendig ist, ist immer eine politische Grenzziehung und bedarf der politischen und administrativen Regulierung.
Während im Ministerium an der Selbstverwaltung festgehalten wird, empfehlen SPD- nahe Wissenschaftler, den Wettbewerbsrahmen ohne die Selbstverwaltung zu definieren. Der Staat soll sich aus der Steuerung zurückziehen. Wie so unerwünschte Entwicklungen beseitigt werden sollen, bleibt offen. Zudem wird zunehmend gefordert, die Position des Versicherten und Patienten zu stärken und eine am Leitbild des mündigen Bürgers ausgerichtete solidarische Wettbewerbsordnung zu realisieren.
Jedoch hängt die Stellung der Versicherten und Patienten erheblich von ungleichen Konkurrenzbedingungen und finanziellen Spielräumen ab. Budgetierungen und auf Mengenbegrenzung gerichtete Entgeltsysteme mit Fall- und Kopfpauschalen sind sozial schlechte Voraussetzungen.

Was auf uns zukommt

Die vielen einzelnen offenen Fragen werden aber vor den Wahlen nicht mehr beantwortet. Nach den Wahlen wird es jedoch möglicherweise sehr viel radikalere Antworten auf gesundheitspolitische Problemlagen geben: Für 2003 wurde von der rot-grünen Regierung bereits eine neue "große" Gesundheitsreform angekündigt.
Damit zeichnen sich unabhängig von einem möglichen Regierungswechsel weitreichende Veränderungen ab. Insbesondere die Frage nach dem Umfang und der Finanzierung des Leistungskatalogs der GKV wird ein Schlüsselthema sein. Der Erhalt dieses gemeinsamen und einheitlichen Leistungskatalogs ist aber entscheidend für den zukünftigen Charakter des Gesundheitssystems.
Die CDU fordert — ebenso wie die Unternehmerverbände — die Privatisierung der Krankenbehandlungskosten und tritt für die Aufspaltung in Grund- und Wahlleistungen, für Kostenerstattung, Selbstbehalt und Bonussysteme ein. Die FDP fordert zusätzlich die Auszahlung der Arbeitgeberbeiträge. Während die PDS bisher am eindeutigsten für einen einheitlichen Leistungskatalog eintritt, überwiegen auch bei den Grünen Vorschläge, ihn zu durchforsten, den Beitragszahlerkreis auszuweiten, die Pflichtgrenze anzuheben und weitere wettbewerbliche Strukturen zu fördern.
Das Ministerium hat bisher Forderungen nach einer Aufspaltung des Leistungskatalogs eine Absage erteilt. Der Sicherstellungsauftrag soll nicht den Krankenkassen überantwortet und am Kollektivvertragssystem festgehalten werden. Von SPD- Politikern, in Papieren aus dem Kanzleramt und dem Wirtschaftsministerium sowie von SPD-nahen Wissenschaftlern sind aber auch erheblich abweichende Positionen vertreten worden. Insofern stellen sich im Hinblick auf alle sozialdemokratischen Ankündigungen die Fragen nach dem wahlkampfstrategischen Kalkül der SPD und ihrer generellen sozialpolitischen Ausrichtung.
So ist es durchaus möglich, dass es in der nahen Zukunft zu einer umfassenden "Reform", zu einem Systemwechsel der GKV kommt. Umso wichtiger ist der Einfluss, den die Gewerkschaften und Attac mit ihrem Eintreten für ein solidarisches Gesundheitssystem und die Grundprinzipien der GKV ausüben können.
Zwar wurde die GKV 1881 von einem autoritären Regime als Bestandteil einer gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Strategie ins Leben gerufen. Aber es ist doch gelungen, in einem gesellschaftlichen Teilbereich den Zielsetzungen Gleichheit und Solidarität ein gewisses Stück näher zu kommen und ein relativ stabiles Gesundheitssystem zu errichten, das nicht demontiert werden sollte.
Denn der gesellschaftliche Umgang mit Krankheit und Gesundheit, seine Nähe und Ferne zu Solidarität und sozialer Gerechtigkeit ist ein sensibler Maßstab für das Ausmaß gesellschaftlicher Ungleichheit und sehr dafür geeignet, gesellschaftliche Machtstrukturen zu kritisieren und anzugreifen. Dementsprechend vorsichtig wurden selbst kleinere sozialstaatliche Einschnitte vorgenommen, dementsprechend konfliktreich verliefen die Auseinandersetzungen um größere.
Für die Zukunft der GKV ist die Zustimmung der Wähler zum Solidaritätsprinzip entscheidend, die bisher hoch ausfiel. Auf mehr "Markt" und "Wettbewerb" gerichtete Reformen und die Aushöhlung des Solidaritätsprinzips schaffen aber die materiellen Grundlagen ökonomistischer Deutungsmuster, die die Demontage der Grundprinzipien der GKV voranzutreiben drohen.
Wenn jedoch der Ökonomisierung des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit nicht Grenzen gesetzt werden, wird die Gesellschaft immer stärker nach den Modellen neoliberaler Ökonomen und ihrer Auftraggeber gestaltet. Dagegen sollte mobilisiert werden. Eine zeitgemäße Anpassung des Gesundheitswesens ist organisierbar und finanzierbar, ohne die bisherigen sozialen Errungenschaften aufzugeben.
Das Menschenrecht Gesundheit ist ebenso wie die Ziele soziale Gerechtigkeit und Solidarität ein Kernbestandteil des europäischen Sozialmodells. Die blinde Macht der neoliberalen Ökonomisierung und Konkurrenz droht derzeit, jede progressive Reform zu bekämpfen und zu verhindern, um statt ihrer die vermeintlich progressive, in ihrem Kern jedoch zutiefst antiaufklärerische und reaktionäre Transformation der Sozialsysteme der europäischen Gesellschaft fortzusetzen.

Wolfram Burkhardt

Der Autor ist Medizinsoziologe an der Uni Frankfurt/M. Letzte Veröffentlichung: mit H.-U.Deppe (Hg.), Solidarische Gesundheitspolitik. Alternativen zu Privatisierung und Zwei-Klassen-Medizin, Hamburg (VSA) 2002.




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